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Die Menschmaschine ist zurück: N’Golo Kanté und sein überragendes Comeback für Frankreich
Zwei Jahre lang hat N’Golo Kanté kein Länderspiel bestritten. Beim 1:0-Sieg der Franzosen gegen Österreich im ersten EM-Spiel stellt er seinen enormen Wert unter Beweis.
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Fünf Minuten vor dem Ende geriet N’Golo Kanté in ernste Schwierigkeiten. Patrick Wimmer, als Einwechselspieler der Österreicher noch ausreichend fit, zog mit Tempo an ihm vorbei. Kanté, letzter Mann seines Teams vor dem Tor, geriet ins Straucheln, er landete auf seinem linken Fuß, schien wegzurutschen, fing sich und angelte sich mit rechts den Ball.
In der blauen Ecke der Düsseldorfer Arena wurden in der Folge Gesänge angestimmt, die dem kleinen großen Mittelfeldspieler der französischen Nationalmannschaft gewidmet waren. N’Golo Kanté, 1,69 Meter groß, 68 Kilogramm leicht und auf einer der neuralgischen Positionen des modernen Fußballs zu Hause, ist schon lange kein unbesungener Held mehr.
Am Montagabend in Düsseldorf wurde er völlig zurecht zum „Player of the Match“ gekürt. Nicht nur wegen seiner Rettungstat gegen Patrick Wimmer vom VfL Wolfsburg hatte Kanté einen gehörigen Anteil daran gehabt, dass die Équipe tricolore ihren dünnen Vorsprung durch ein Eigentor des österreichischen Innenverteidigers Maximilian Wöber über die Zeit rettete und mit einem 1:0-Erfolg in die Europameisterschaft startete.
„Es ist eine Freude, wieder dabei zu sein“, sagte Kanté, der erst Anfang des Monats, beim Testspiel gegen Luxemburg, nach fast auf den Tag exakt zwei Jahren sein Comeback für Frankreichs Nationalmannschaft gefeiert hatte. Am Tag nach seiner Rückkehr hatte die Sportzeitung „L’Équipe“ geschrieben: „Nichts hat sich verändert.“
Das galt auch für das erste Gruppenspiel der Franzosen bei der EM in Deutschland. N’Golo Kanté, die Menschmaschine, ratterte über den Rasen, als wäre er nie weg gewesen. 73 Ballkontakte, 92 Prozent Passquote, 10 Balleroberungen: So lauteten die wichtigsten Kennziffern seines Arbeitstages. Als überragend charakterisierte Ralf Rangnick, der deutsche Trainer der unterlegenen Österreicher, die Leistung des inzwischen 33 Jahre alten Kantés.
Dass die französische Mannschaft das Spiel gegen Österreich gewonnen habe, „verdankt sie in hohem Maß ihrem Mittelfeld“, schrieb „L’Équipe“. Didier Deschamps, Coach der Franzosen, hatte Kanté als alleinigen Sechser vor den Achtern Adrien Rabiot und Antoine Griezmann aufgeboten. Während Rabiot und Griezmann die Österreicher im Spielaufbau attackieren sollten, war Kanté für die Beherrschung des rückwärtigen Raums zuständig.

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Der Weltmeister von 2018 erledigte seinen Job mit der ihm eigenen Verlässlichkeit. „Wie gut es ist, einen solchen Spieler zu haben“, urteilte „L’Équipe“. In der Tat: Noch nie hat Frankreich ein Spiel bei einem großen Turnier verloren, wenn Ngolo Kanté auf dem Platz stand (zwölf Siege, vier Unentschieden).
Deschamps wirkte fast ein wenig irritiert, als er sich nach dem Spiel zur Leistung seines defensiven Mittelfeldspielers äußern sollte. Es hatten doch alle gesehen! „Man muss sich nur anschauen, was er gemacht hat“, antwortete Frankreichs Trainer und lobte Kantés Spielintelligenz und seine Fähigkeiten bei der Balleroberung: „Er hatte heute echt Strahlkraft.“
Er hatte heute echt Strahlkraft.
Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps über Kantés Auftritt gegen Österreich
Dass Kantés Licht noch so hell leuchtet, war nicht von allen erwartet worden. Die überraschende Rückkehr in die Équipe tricolore ist in Frankreich durchaus von Skepsis begleitet worden. Seit dem vergangenen Sommer steht er bei Al-Ittihad in Saudi-Arabien unter Vertrag – in einer Liga, in der zwar übermäßig viel Geld bezahlt wird, deren sportlicher Wert allerdings als überschaubar gilt.
Die große Frage vor dem Turnier war daher, ob Kanté den athletischen Anforderungen einer Europameisterschaft noch gewachsen sein würde; erst recht, nachdem er schon vor seinem Wechsel nach Saudi-Arabien verstärkt unter Verletzungen zu leiden gehabt hatte. In seiner letzten Saison beim FC Chelsea war Kanté nur noch neunmal zum Einsatz gekommen.
Was sich schon in der Vorbereitung abgezeichnet hatte, bewahrheitete sich nun beim ersten EM-Gruppenspiel der Franzosen, das von hoher körperlicher Intensität geprägt war: Kanté scheint ausreichend fit zu sein für die vielleicht letzte große Herausforderung seiner Karriere.
Dabei war sein Comeback vor allem eine Vorsichtsmaßnahme von Nationaltrainer Deschamps. Hätte sich Aurélien Tchouameni von Real Madrid Anfang Mai, im Champions-League-Spiel gegen Bayern München, nicht am linken Fuß verletzt, wäre Kanté wohl gar nicht für die Europameisterschaft berufen worden.
Tchouameni hat es immerhin in den Kader der Franzosen geschafft, und gegen Österreich saß er zumindest schon wieder auf der Bank. Dass er aber im Laufe des Turniers seinen Platz in der Startelf zurückerhält, ist seit dem Auftakt gegen Österreich alles andere als selbstverständlich. „L’Équipe“ schrieb am Tag nach dem Spiel über N’Golo Kanté: „Es ist schwer vorstellbar, dass Didier Deschamps für den Rest der Euro an ihm vorbeikommt.“
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