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Die Ukraine bei den Paralympics: Erst Sport, dann Krieg, dann Sport
Nach dem russischen Angriff kam der Para-Sport in der Ukraine zum Erliegen. Viele Athleten verließen das Land, andere wollten an die Front. Doch 140 Sportler treten auch dieses Jahr bei den Paralympics an.
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Valerii Sushkevich nimmt sich viel Zeit für die Geschichte und lässt sie von seiner Dolmetscherin übersetzen – trotz guter Englischkenntnisse. Es geht um den Sitzvolleyballspieler Dmytro Melnyk (Foto oben) aus dem Nationalteam der Ukraine, an den sich der Präsident des Nationalen Komitees in einem Videotelefonat Mitte Juli erinnert.
Nach dem Angriff Russlands vor über zweieinhalb Jahren habe es der Para-Sportler nicht ausgehalten, dem Krieg tatenlos zuzusehen. Melnyk wollte an die Front, obwohl Menschen mit Beeinträchtigungen nicht eingezogen werden. Er meldete sich trotzdem beim Militär an – und ließ sich für sein Humpeln Ausreden einfallen. Seine Schuhe seien zu eng, soll er seinen Kameraden laut Sushkevich erzählt haben.
Rund 3000 ukrainische Spitzensportler sind nach Angaben des Sportministeriums in Kiew seit Kriegsbeginn zur Armee gegangen. 460 von ihnen sind gefallen. Es ist nicht bekannt, wie viele Para-Sportler sich insgesamt unter den Soldaten befinden.
Dmytro Melnyk tauschte bald wieder die Waffe gegen den Volleyball ein. Er trat aus dem Militär aus, weil sein Team noch um die Qualifikation für die Paralympics kämpfte und um seine Unterstützung bat. Neben ihm wird in Paris mit Jewegeni Korinets noch ein zweiter Veteran im Sitzvolleyball dabei sein. Er kämpfte in der Nähe von Bahmut und verlor ein Bein.

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Gemeinsam werden sie nun in Paris auf dem Sportfeld die Farben der Ukraine tragen. 140 Sportlerinnen und Sportler, die in 17 Sportarten konkurrieren, schickt das Land, das auf eine äußerst medaillenreiche Zeit in seiner Paralympics-Geschichte blickt.
Nach ihrem Debüt 1996 stieg die Ukraine bald zu einer der erfolgreichsten Nationen auf. Bei den vergangenen zehn Paralympics reichte es im Medaillenspiegel jeweils für einen Platz unter den besten sechs – was auf den ersten Blick überraschend erscheint. Vor dem Krieg zählte die Ukraine zu einem der ärmsten Staaten Europas und wurde von der UN als ein schwieriges Zuhause für Menschen mit Behinderungen beschrieben. Doch im Sport können sie es zu etwas bringen.
Denjenigen, die sich durchsetzen, ist es möglich, mit ihren Erfolgen den Lebensunterhalt zu bestreiten. Die vielversprechenden Para-Sportler erhalten ein staatliches Gehalt und Preisgeld. „Ich hatte keine Wohnung. Ich hatte kein Gehalt. Ich hatte keine gute Rente“, sagte die paralympische Goldmedaillengewinnerin im Para-Gewichtheben, Lidiya Solovyova, der „New York Times“: „Aber jetzt, dank des Sports, habe ich all diese Dinge.“ Hinter den vielen Medaillen von Team Ukraine steckt eine hochprofessionelle Struktur, die sich auf das ganze Land verteilt.
An Training ist vielerorts nicht zu denken
Es war Valerii Sushkevich selbst, der während seiner Studienzeit einen der ersten Behindertensportvereine der damaligen Sowjetunion gründete. Es sollte der Grundstein sein für das heutige Programm unter dem Namen „Invasport“. 25 Regionalzentren bieten Menschen mit Behinderungen Rehabilitations- und Trainingsmöglichkeiten. Hinzu kommen 27 Sportschulen für Kinder mit Behinderungen, um diese bereits früh in das paralympische System zu integrieren.
Auch personell ist die paralympische Bewegung in der Ukraine bestens ausgestattet. Ein großes Team aus Managern, Ärzten sowie Trainern kümmert sich um die Belange der Athletinnen und Athleten und bietet ihnen ein professionelles Umfeld.
Es ist ein Wunder und beweist, dass ein Wille alles möglich machen kann.
Valerii Sushkevich. Er baute den Para-Sport in der Ukraine professionell auf.
Der Sport habe sehr viele Wunder in seinem Leben bewirkt, erzählt Sushkevich. Der 70-Jährige erkrankte im Alter von drei Jahren an Polio und lebt seitdem mit Funktionsstörungen der Gliedmaßen. Sein Vater brachte ihn bereits früh zum Sport, um seine motorischen Fähigkeiten zu fördern. Es reichte sogar zu einem Paralympics-Sieg für die Sowjetunion. Bis heute ist er stolz auf die Entwicklung von Invasport, Sushkevich ist die entscheidende Person hinter der Erfolgsgeschichte seines Landes bei den Paralympics. „Es ist ein Wunder und beweist, dass ein Wille alles möglich machen kann“, sagt er.
Doch seit dem russischen Angriff auf die Ukraine unmittelbar vor den Winter-Paralympics 2022, bei denen die Ukraine noch die zweitmeisten Medaillen gewann, sieht sich auch das Para-Sport-System mit großen Herausforderungen konfrontiert. In den ersten Monaten nach Beginn des Krieges kam der paralympische Sport laut Sushkevich zum Erliegen.
Während der russischen Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014 hatte Invasport bereits sein Haupttrainingscenter verloren. „Dieses Zentrum war meines Erachtens das beste der Welt und die Quelle für die Leistungen unserer Sportler“, sagt Sushkevic. Putin habe es ihnen genommen. Hinzu kamen bis heute viele weitere zerstörte Sportstätten. An Training ist vielerorts nicht zu denken.
In Charkiw fehlt es an allem
Der erfolgreichste Athlet der vergangenen Sommerspiele in Tokio etwa hat sein Training schon lange eingestellt. „Dazu bin ich seit dem Krieg einfach nicht in der Stimmung“, sagt der ukrainische Para-Schwimmer Maksym Krypak, der aus Japan fünf Goldmedaillen und jeweils einmal Silber und Bronze mit nach Hause gebracht hatte.
Die Schwimmhalle betritt er nur noch, um Kindern in seiner Heimatstadt Charkiw das Schwimmen beizubringen. „Leider kommen nicht mehr besonders viele Kinder zum Training. Ihre Eltern sind zu besorgt“, sagt er. In Paris wird er nicht an den Start gehen.

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Der 29-Jährige lebt trotz des Krieges weiterhin in Charkiw – obwohl es der Stadt an allem mangele, erzählt Krypak in einem Videotelefonat im Juli. Hygieneartikel, Decken, Kissen, Kleidung. Der Strom fiele oft für mehrere Stunden am Stück aus. Heute kümmere er sich selbst vorrangig um die Akquise der Hilfsgüter für die verbliebenen Menschen in seiner Heimatstadt. Auch in dem Rehazentrum, das er 2002 gründete, um Menschen mit Behinderungen eine Rückkehr ins Leben zu ermöglichen, hilft er bis heute aus.
Die Bilder aus der Ukraine haben mich total mitgenommen.
Maurice Schmidt, deutscher Rollstuhlfechter
„Ich musste mein Leben durch den Krieg zwangsläufig verändern. Dabei haben sich auch meine Prioritäten verschoben“, sagt er. An seiner Entscheidung gegen den Leistungssport konnten auch Umstimmungsversuche seines Verbandes nichts ändern. Obwohl ihn die jetzige Tätigkeit erfüllen würde, vermisst der Ukrainer das Schwimmen. Nach Kriegsende möchte er zum Sport zurückkehren.
Andere Para-Athletinnen und Athleten halten trotz des Krieges an ihren paralympischen Träumen fest. Wie viele von ihnen noch in der Ukraine trainieren, kann Valerii Sushkevich nicht sagen. „Die Zahl ändert sich täglich. Einige gehen, andere kommen zurück“, sagt er. Viele von denen, die gegangen sind, seien von europäischen Ländern aufgenommen worden. Einige gingen nach Kanada.
Rückkehr nach den Spielen
Auch Deutschland hat Para-Sportlerinnen und Sportler aus der Ukraine aufgenommen. Einer von ihnen ist Artem Manko. Der Rollstuhlfechter verließ sein Land kurz nach dem Ausbruch des Krieges und trainiert heute beim SV Böblingen. Auf Initiative des Bundestrainers unterstützte der deutsche Rollstuhlfechter Maurice Schmidt die Aktion. „Die Bilder aus der Ukraine haben mich total mitgenommen. Insbesondere, weil ich selbst vor einiger Zeit in einem Trainingslager in Odessa war und viele Fechter durch Wettkämpfe persönlich kannte“, sagt der 25-Jährige. In Artem Manko fand er einen Trainingspartner auf seinem Niveau. Beide werden in Paris dabei sein.
Wir werden den Russen das Spielfeld nicht überlassen – sondern ihnen das geben, was sie verdienen.
Artem Manko, ukrainischer Rollstuhlfechter
Für Manko war neben der Sicherheit auch der weitere sportliche Werdegang der Grund, weshalb er die Ukraine verließ. Es sei ihm nicht leicht gefallen, erzählt er in einem Videotelefonat im Juli. Nicht jeder könne seine Entscheidung nachvollziehen. Manche Menschen in der Ukraine würden auf Menschen wie ihn herabschauen. Sie würden nicht die ganze Geschichte sehen, sondern nur einen jungen Mann, erzählt Manko.
Dass er aufgrund seiner Behinderung nicht im Krieg kämpfe, werde dabei oft übersehen. Auch wenn es ihn verletzt, versucht der 26-Jährige solche Kommentare nicht an sich heranzulassen und sich stattdessen auf das Training zu konzentrieren. Nach den Paralympics plant er, zurück in seine Heimat zu gehen – sofern die Sicherheitslage es zulässt.
Dass in Paris auch russische Sportler an den Start gehen, kritisiert der Rollstuhlfechter massiv. „Jeder weiß, dass die weiße Flagge für Russland steht. Es gibt keine Entschuldigung für das Internationale Paralympische Komitee, russische Sportler zuzulassen“, stellt der Silbermedaillengewinner von den Spielen in Tokio klar und kündigt an: „Wir werden den Russen das Spielfeld nicht überlassen – sondern ihnen das geben, was sie verdienen.“
Russische Sportler werden in Paris in der Leichtathletik, im Schwimmen, Tischtennis, Triathlon und Taekwondo starten. Ein direktes Duell bleibt Manko also erspart. Auf den obligatorischen Handschlag hätte er bei einem Aufeinandertreffen aber ohnehin verzichtet, was im Fechtsport ohne Strafe möglich ist.
Erst kürzlich war es bei der WM um die Ukrainerin Olha Charlan zum Eklat gekommen. Sie hatte einer Russin den Handschlag nach dem Kampf verwehrt – und wurde daraufhin disqualifiziert. Der Fall sorgte für großes Aufsehen, am Ende änderte der Weltverband seine Regularien. Charlan hatte zuvor in einem Video gefordert: „Die Regeln müssen sich ändern, weil sich die Welt ändert.“
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