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Die sehbeeinträchtigte Schwimmerin Elena Semechin

© REUTERS/ANDREW COULDRIDGE

Elena Semechin über ihre Weltrekordzeit: „Ich glaube immer noch, ich träume“

Die sehbeeinträchtigte Schwimmerin über die Zeit nach ihrer Krebsdiagnose, den Paralympics-Sieg von Paris und ihre Rolle als Fahnenträgerin bei der Abschlussfeier.

Von Svea Frey

Stand:

Am vergangenen Donnerstagabend hat die Para-Schwimmerin Elena Semechin in einem sensationellen Finale einen neuen Weltrekord aufgestellt und wurde Paralympics-Siegerin über die 100 Meter Brust. Dabei waren die vergangenen drei Jahre alles andere als einfach für die sehbeeinträchtigte Berlinerin: Im September 2021, nur sechs Wochen nach ihrem Sieg in Tokio, wurde bei Semechin ein Hirntumor festgestellt. Für sie begann ein Kampf um das eigene Leben und um die eigene Persönlichkeit.

Im Interview mit der Paralympics Zeitung spricht sie über ihren Erfolg in Paris und darüber, dass man niemals den Glauben an sich selbst und die eigenen Träume verlieren sollte.

Frau Semechin, am Donnerstag haben Sie Ihre Goldmedaille bei den Paralympics verteidigt und obendrauf Ihren eigenen Weltrekord unterboten. Haben Sie Ihren Erfolg schon realisiert?
Die vergangenen Tage waren heftig. So viele Eindrücke, Glückwünsche und Emotionen. Ich bin immer noch überwältigt und kann das alles noch nicht so richtig fassen. Ich glaube immer noch, ich träume. Ich bin einfach erfüllt, glücklich, zufrieden und dankbar, dass das alles so geklappt hat.

Nach dem Vorlauf am Donnerstagmorgen war Ihr ganz klares Ziel, eine neue Bestzeit zu schwimmen. Worüber haben Sie sich letztendlich mehr gefreut – über die Goldmedaille oder den Weltrekord?
Definitiv über die neue Bestzeit. Die war ja auch schon etwas älter. Von 2019, um genau zu sein. Es war für mich wichtig zu sehen, ob ich es schaffe, meine Performance nochmal zu toppen. Das war für mich die größte Frage in den vergangenen Jahren. Dafür haben wir unglaublich viel gearbeitet, und mein Trainer hat einen unglaublich krassen Job gemacht. Dass er mich so aufgebaut und zu dieser Leistung gebracht hat, ist absolut nicht selbstverständlich. Deswegen bin ich da auch einfach stolz, dass wir jetzt dieses Topergebnis erreicht haben.

Wann haben Sie realisiert, dass Sie da gerade Weltrekord geschwommen sind?
Im Wasser habe ich mich erstmal nur gefreut – das Rennen war schön, und ich habe mich super gefühlt. Bei der Stimmung wollte ich einfach mitfeiern. Auf dem Block habe ich dann mitbekommen, dass eine Lampe geleuchtet hat. Das bedeutet, dass ich gewonnen habe. Als ich rausgekommen bin, hat dann irgendjemand so nebenbei gesagt: Glückwunsch zum neuen Weltrekord. Ich konnte es gar nicht glauben und dachte mir nur so: Was, ich? Dann kamen die Emotionen, und im Interview beim Fernsehen musste ich erstmal heulen. Es hat mich alles so überflutet. Ich habe mich so gefreut und da musste das dann mal raus. Ich war sprachlos und konnte nichts mehr sagen. Ehrlich gesagt, bin ich das immer noch. Das bin ich selten, aber da war ich wirklich baff.

Sie wollten Ihren Weltrekord von 2019 unterbieten und nochmal ein bisschen schneller sein als vor fünf Jahren. Wie fühlt sich so ein Kampf gegen sich selber und das frühere Ich an?
Ich war eigentlich relativ ausgeglichen und entspannt. Ich wusste, dass wir wirklich alles gegeben und eine tolle Vorbereitung hatten. Ich habe mir explizit die Zeit genommen. In den letzten drei Monaten vor den Spielen habe ich ganz auf mich, das Training und die Erholung geachtet. Ich wusste, ich habe die perfekte Balance getroffen und dass jetzt der Tag gekommen ist, an dem ich mir das abholen kann. Dann war nur noch Fokus auf all das, was wir stundenlang, wochenlang, monatelang geübt haben. Das wollte ich im Wasser umsetzen. Es war wundervoll.

Sind Sie vorher im Training schonmal diese Zeit geschwommen?
Nein, auf keinen Fall. Selbst beim letzten Wettkampf vor den Spielen (Internationale Deutschen Meisterschaft in Berlin im Juni, Anm.d.R.) war ich sehr enttäuscht und traurig. Das war wirklich kein gutes Rennen von mir. Ich dachte, ich bin vielleicht doch nicht auf dem guten Weg, wie eigentlich vermutet hatte. Ich habe dann auch erstmal wieder eine Zeit lang gebraucht, um wieder daran zu glauben, dass ich das schaffen kann. Nach und nach kam das aber, wenn wir harte Sessions überstanden haben und auch über die Grenzen hinaus gegangen sind. Langsam kam die Zuversicht, dass es klappen könnte. Das hat mir dann auch die nötige Ruhe gegeben.

Also war das im Finale am Donnerstag wirklich die beste Zeit, die Sie seit 2019 geschwommen sind?
Ich hatte auch gute Ergebnisse im Training, aber es ist natürlich immer etwas anderes, das dann auch auf die Bahn zu bringen. Vor allem bei so einem großen Ereignis. Die Erwartungen waren auch recht groß. Es gab viel Aufmerksamkeit. Es war einfach eine Drucksituation, vor allem weil so viele Zuschauer da waren. Unter ihnen auch meine Familie und Freunde, die mich zum ersten Mal live beim Schwimmen gesehen haben. Da hatte ich auch Angst, dass ich versage. Oder mein Kopf und Nerven. Letztendlich habe ich es aber einfach geschafft, an Tag X bei mir zu sein, all das zu genießen und auf die Bahn zu bringen.

Wie haben Sie es geschafft, genau in diesem Moment die 100 Prozent abzurufen?
Ich habe mich eigentlich nur auf die Technik fokussiert. So wie ich das im Training auch mache: meine Züge zählen und auf nichts anderes als die Details zu achten. Das war der Hauptgedanke während des Wettkampfes. Bei mir und der Technik sein. Auf den letzten Metern habe ich gedacht: Okay, jetzt all in. Alles, was noch in dir steckt. Auf zur Wand und zum Anschlag. Dann hat’s gereicht. Es ist der Wahnsinn.

Haben Sie schon während des Rennens gemerkt, dass es für den Weltrekord reichen könnte?
Ich habe noch nicht an den Weltrekord gedacht. Ich bin einfach gut geschwommen und es hat sich gut angefühlt. Wenn man aber anschlägt und nicht die Zeit sieht, kann man das schwer abschätzen. Es geht eben nur um Zehntel oder sogar Hundertstel. Ich hatte das Rennen aber gut unter Kontrolle und das war mir wichtig.

Sie haben am Zeigefinger der linken Hand einen Ring mit den olympischen Ringen drauf. Könnten Sie sich vorstellen, auch an olympischen Wettkämpfen oder sogar Olympia teilzunehmen?
Es ist nicht so, dass ich davon träume oder das auf meiner To-do-Liste steht. Natürlich machen mir auch Wettkämpfe mit Nicht-Behinderten Spaß und ich trainiere unfassbar gerne mit anderen Schwimmerinnen. Ich messe mich auch gerne mit Menschen ohne Beeinträchtigung. Ich eifere dem aber nicht nach und sage, dass ich auch bei Olympia starten will. Ich finde das einfach toll und es ist für mich dasselbe. Wir machen das halt nur hintereinander. Im Prinzip machen wir aber alle das Gleiche. Egal, ob paralympisch oder olympisch.

Bei Ihrem Empfang im Deutschen Haus kamen Ihnen zu späterer Stunde am Donnerstag nochmal die Tränen. Waren das Freudentränen oder ist da die Last der letzten drei Jahre abgefallen?
Ich musste kurz eine Träne zurückschieben. Ich wollte eigentlich nur glücklich sein und mich freuen. Und das war ich auch und habe dann einfach nur noch gestrahlt und gelacht. Es war so ein wundervoller Moment fürs Leben. Das habe ich dann alles aufgesaugt. Ich hatte überhaupt keine Last. Es war die pure Erfüllung. Das war so ein unglaublicher Moment für mich und es war so elektrisierend. Das war einfach überwältigend und da wusste ich auch gar nicht, was eigentlich in mir vorging. Oh mein Gott, einfach ein Traum.

Elena Semechin mit Trainer und Ehemann Philip Semechin

© IMAGO/Ralf Kuckuck

Sie haben in den letzten drei Jahren nach der Krebsdiagnose eine unglaublich schwere Zeit durchgemacht. Was bedeutet Ihnen jetzt dieser Sieg?
In erster Linie war es die Bestätigung für mich und vielleicht auch für viele andere Menschen da draußen. Vielleicht kann ich dadurch eine Art Beispiel sein. Es lohnt sich zu kämpfen und dranzubleiben. Es lohnt sich, nie aufzugeben und positiv auf die Dinge zu schauen. Das muss ja nicht unbedingt wie bei mir im Leistungssport sein. Es geht auch um Banalitäten, wie wieder zu sich selber zu finden, wieder die eigenen Hobbies auszuüben oder was auch immer. Ich hoffe, dass mein Erfolg ganz, ganz vielen Menschen ein Beispiel sein kann. Jeder soll an seinen Träumen und Wünschen festhalten und weiter daran glauben.

Sie haben immer wieder betont, dass Sie ohne Ihren Mann und Trainer Phillip Semechin nicht da wären, wo Sie jetzt sind. Wie kann man sich diese Unterstützung vorstellen?
Bei uns ist das immer ganz klar getrennt: Ehemann zu Hause – und Trainer am Beckenrand. Das ist auch für uns beide sehr, sehr wichtig. Als ich damals nach Berlin gekommen bin, waren wir ja auch gar nicht zusammen. Damals war für mich schon klar: Wenn jemand aus mir einen Champion machen kann, dann ist das der Herr Semechin. Ich bin aus Bayern dorthin gewechselt. Ich weiß einfach, dass er das Know-how hat. Im Endeffekt war das die beste Entscheidung meines Lebens.

War das während Ihrer Behandlung auch so?
Während der Chemotherapie habe ich ihn dann gefragt, was wir jetzt machen sollen. Ich wollte ja unbedingt im Sport bleiben. Auf meine Frage, ob er da noch Chancen sieht, hat er mit einem ganz klaren Ja geantwortet. Wir wollten es probieren und uns war klar, dass wir da zusammenarbeiten müssen. Natürlich konnte er nicht alles bestimmen, und wir mussten ganz viel miteinander abstimmen und besprechen. Vor allem, was mein Körper dann auch hergibt. Schritt für Schritt und Stück für Stück sind wir dann weiter über die Grenzen hinaus und haben das geschafft. Sowohl privat als mein Fels, und auch als Trainer, auf den ich mich verlassen kann.

Sie werden an diesem Sonntag die Fahne für Deutschland bei der Abschlussfeier tragen. Haben Sie damit gerechnet?
Nein, überhaupt nicht. Ich wurde von Herrn Quade angerufen und er hat mir das mitgeteilt. Ich war total überrascht. Es gibt so viele erfolgreiche Sportler hier mit beeindruckenden Geschichten. Und dann darf ich das ausgerechnet machen?! Für mich sind diese Spiele etwas ganz Besonderes und jetzt habe ich auch noch den perfekten Abschluss. Ein besseres Ende der Spiele kann ich mir nicht vorstellen. Es ist eine Ehre und ich bin unfassbar dankbar, dass ich das machen darf.

Vor drei Jahren konnten Sie die Zeit aufgrund Ihrer Krebsdiagnose nicht so richtig genießen. Wie soll das dieses Mal ablaufen?
Ich werde erstmal alles Stück für Stück beantworten und mir für alles Zeit nehmen. Danach mache ich mich ein letztes Mal an meine To Dos. Ich will Segeln lernen. Viel Zeit in Berlin mit meiner Familie und den Freunden verbringen. Das, was ich in den letzten drei Jahren viel verpasst habe. Jetzt können wir das ganz gemütlich nachholen.

Sie selbst sagen, dass Sie gar nicht so gerne im Wasser sind. Trotzdem sind Sie aus dem deutschen Para-Schwimmen nicht mehr wegzudenken. Haben Sie schon Ziele für Ihre restliche Karriere?
Heute habe ich noch keine neuen Ziele. Wir werden uns jetzt erstmal ein paar Wochen ausruhen. Nicht nur den Körper, auch den Geist. Einfach mal Abstand zu dem ganzen Druck und Leistungssport gewinnen. Auch mal Zeit für andere Sachen haben, wie viel Arbeit mit den Medien und das Halten von Vorträgen. Das mache ich sehr gerne. Ich möchte für die Menschen da sein und mit allen diese Erfahrung zu teilen. Das ist jetzt erstmal die Priorität.

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