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Cannavaro hier, Cannavaro da, Cannavaro überall. Italiens Abwehrchef ließ die deutschen Angreifer (hier Lukas Podolski) nicht zur Entfaltung kommen.

© Imago

Evergreens des Fußballs (8): Wie Fabio Cannavaro Italien 2006 zum WM-Titel führte

Kaiser di Germania: Den WM-Titel 2006 haben die Italiener nicht zuletzt Fabio Cannavaro zu verdanken, auch beim 2:0-Sieg im Halbfinale gegen Deutschland.

Kein Fußball. Und das über Wochen, vielleicht sogar Monate. Nicht mal ein Testspiel aus dem Trainingslager im Süden, in dem die B-Mannschaft des eigenen Klubs gegen einen rumänischen Zweitligisten antritt. Es gibt also genügend Zeit für legendäre Spiele aus der Vergangenheit. Wir stellen hier einige vor. Heute: WM 2006, Halbfinale, Deutschland - Italien.

Vor kurzem ging es in dieser Rubrik um das Uefa-Pokal-Finale von 2001 zwischen dem FC Liverpool und Deportivo Alaves. Selbst Menschen, die nur alle zwei Jahre bei den großen Turnieren Fußball schauen, erkennen bei solch einem 5:4 nach Golden Goal, dass es sich um ein besonderes Spiel handelt. Für den Mainstream-Zuschauer machen halt Tore den größten Reiz aus, bei Fußball-Nerds ist das nicht unbedingt so. Im Halbfinale der WM 2006 zwischen der deutschen Nationalmannschaft und Italien fielen 118 Minuten keine Tore, und doch ist das 2:0 nach Verlängerung eines der packendsten Spiele der jüngeren WM-Historie.

Man könnte anhand dieses Halbfinals viele Geschichten erzählen: Die vom Ende des deutschen Titeltraums im eigenen Land, jene vom (damals noch) ewigen Angstgegner oder die der Auferstehung des italienischen Fußballs nur wenige Wochen nach Bekanntwerden des großen Manipulationsskandals in der Serie A.

Ein Verteidiger ohne Fehler

Man kann das Spiel aber auch als Anschauungsunterricht für jeden Innenverteidiger dieser Welt begreifen – ob in der Kreisliga oder der Champions League. Mit 32 Jahren zeigt Italiens Kapitän Fabio Cannavaro eine der beeindruckendsten Defensivleistungen überhaupt. Seine Rolle bei der WM – Italien wird Weltmeister, ohne ein einziges Tor aus dem Spiel kassiert zu haben – ist einige Monate später ausschlaggebend bei der Wahl zum Weltfußballer. Als erster und immer noch einziger Abwehrspieler landet Cannavaro ganz vorne.

Im „Kicker“ erhält er im Halbfinale die vor allem bei Defensivspielern seltene Note eins. Die „Gazzetta dello Sport“ titelt am Tag darauf „Cannavaro, Kaiser di Germania“. In der Einzelkritik der italienischen Zeitung heißt es: „Es existieren Rekorde für Torhüter ohne Gegentreffer, aber es müsste auch einen geben für Abwehrspieler, die nie Fehler begehen. Er würde bereits ihm gehören. Gegen Klose, gegen Podolski, gegen alle.“

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Um die Leistung Cannavaros in diesem rasanten Spiel zu erkennen, muss man allerdings genau hinschauen. Denn seine Brillanz liegt in den Details, in der Genauigkeit. Italiens Abwehrchef kratzt keine Bälle von der Linie und erzielt auch keine Tore. Er gibt Anschauungsunterricht in einer oft unterschätzen Disziplin: der Antizipation. Cannavaro muss nicht viele Zweikämpfe führen, weil er die beiden deutschen Stürmer Miroslav Klose und Lukas Podolski erst gar nicht an den Ball kommen lässt. Das Team von Bundestrainer Jürgen Klinsmann versucht oft, das Mittelfeld mit schnellen Pässen auf die Angreifer zu überbrücken. Diese Taktik scheitert aber vor allem in der ersten Halbzeit an Cannavaro, der diese Anspiele kommen sieht und abfängt.

Die Italiener überraschen mit Offensive

Diese offensive Art des Verteidigens birgt ein großes Risiko, denn stimmt das Timing nicht, öffnen sich große Räume. Bei dieser WM präsentiert die italienische Hintermannschaft aber eine derartige Mischung aus perfektem Zusammenspiel und individueller Fehlerlosigkeit, dass Trainer Marcello Lippi gerade im Halbfinale eine sehr mutige Herangehensweise wählen kann. ZDF-Kommentator Bela Rethy stellt schon nach einer guten Viertelstunde fest: „Die italienische Mannschaft überrascht die deutsche Elf mit ungewohnter Offensive.“

Da auch die Gastgeber, angetrieben vom Großteil der 65.000 Zuschauer im Dortmunder Westfalenstadion, nach vorne spielen, entwickelt sich ein grandioses Spiel mit Chancen auf beiden Seiten. In der Verlängerung stehen bei Italien mit Alberto Gilardino, Vincenzo Iaquinta, Alessandro Del Piero und Francesco Totti vier Stürmer auf dem Platz. Gilardino und Gianluca Zambrotta treffen innerhalb einer Minute Pfosten und Latte, Podolski scheitert an Gianluigi Buffon. In der 119. Minute schlenzt Fabio Grosso den Ball schließlich nach einer Ecke zum 1:0 in die lange Ecke. Das deutsche Team wirft nun alles nach vorne, an Cannavaro, der nach dem Finale den Spitznamen „Berliner Mauer“ verpasst bekommt, ist aber kein Vorbeikommen. Den Soundtrack für diese Ausnahmeleistung lieferte der Kommentar von Fabio Caressa bei Sky Italia unmittelbar vor dem zweiten Tor: „Da kommt der Ball. Cannavaro klärt. Podolski setzt nach, aber wieder Cannavaro. Cannavaro! Konter über Totti, der Ball nach vorne zu Gilardino. Pass auf Del Piero. Tor! Schließt die Koffer, Freunde – wir fahren nach Berlin!“

Bisher in dieser Serie erschienen: DFB-Pokalfinale 1973 Borussia Mönchengladbach - 1. FC Köln , DFB-Pokalfinale 1993 Hertha BSC Amateure - Bayer 04 Leverkusen , WM-Finale 1974, Bundesrepublik Deutschland - Niederlande , Uefa-Cup-Finale 2001, FC Liverpool - Deportivo Alaves , DFB-Pokalfinale 1998, MSV Duisburg - Bayern München , Champions-League-Finale 1997, Borussia Dortmund - Juventus Turin , Europapokal der Pokalsieger 1985/86, Viertelfinale, Bayer Uerdingen - Dynamo Dresden .

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