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Im Rollstuhltennis endet eine lange Dominanz: Riesengroote Überraschung
Erstmals kommen die Paralympics-Siegerinnen im Einzel und Doppel nicht aus den Niederlanden. Die Weltranglistenerste Diede de Groot verliert gegen die Japanerin Yui Kamiji.
- Benjamin Brown
- Tim Hensmann
Stand:
Wenn die Weltranglistenerste gegen die Zweite verliert, ist das eigentlich keine Sensation. Eigentlich.
Wenn die Verliererin aber Diede de Groot heißt, Titelverteidigerin ist, 15 Grand Slams in Folge gewonnen hat und ihre Heimat, die Niederlande, im Frauen-Rollstuhltennis bei Paralympischen Spielen bisher jedes Mal Gold geholt hat, dann kann man womöglich schon von einer Sensation sprechen.
Die Weltranglistenzweite, die am Freitagnachmittag dafür sorgt, ist die 30-jährige Japanerin Yui Kamiji. Auf dem Hauptplatz im Roland-Garros-Tennistempel zeichnet sich am Freitag im Finale schon früh ab, dass eine Überraschung drin sein könnte. De Groot gerät in Rückstand, vermeidbare Fehler werden ihr immer wieder zum Verhängnis. Dennoch kämpft sich die Niederländerin, die zuletzt im Juli Wimbledon gewonnen hatte, zurück und gewinnt den Satz mit 6:4.
Im zweiten Satz erneut: Fehler, die de Groot eigentlich nicht passieren dürften und normalerweise nicht passieren. Vermeintlich einfach Bälle spielt sie ins Netz, beschert der Japanerin zahlreiche Punkte. Beim Stand von 5:3 für Kamiji hat de Groot Aufschlag. Doppelfehler. Der Satz geht mit 6:3 an die Japanerin.

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Obwohl de Groot sicherlich nicht ihre Bestleistung zeigt und mit der Weltranglistenzweiten eine mehr als würdige Gegnerin hat, spielt sie zwischenzeitlich großartiges Tennis. Den Tausenden von Zuschauern am Court Philippe-Chatrier wird ein Match der Spannungsextraklasse geboten. Und zum Ende soll es noch einmal richtig nervenaufreibend werden.
Wiederholung des Vortags
Im letzten Satz fehlen Kamiji beim Stand von 5:3 zwei Punkte zum Sieg. Im Stadion ist es mucksmäuschenstill, die Spannung allerdings ohrenbetäubend. Doch de Groot bleibt unbeeindruckt, kommt noch einmal auf 4:5 heran. Wenig später: drei Matchbälle, oder Goldmedaillenballe, für Kamiji. Erneut kann de Groot nach einem langen Ballwechsel noch einmal punkten. Beim Aufschlag von de Groot dann eine Szene, die sinnbildlich für ihren Auftritt im Finale von Paris steht. Doppelfehler. Gold für Kamiji.
Die Japanerin holt damit als erste Nicht-Niederländerin jemals eine paralympische Goldmedaille im Rollstuhltennis. De Groot holt Silber. Es ist damit fast eine Wiederholung des Vortags, an dem die niederländischen Top-Favoritinnen de Groot und Aniek van Koot im Doppelfinale gegen Kamiji und ihre Partnerin Manami Tanaka 6:4, 6:7, und 8:10 im entscheidenden Tiebreak verloren.
Die niederländische Dominanz im Frauen-Einzel und -Doppel, die seit der Aufnahme von Tennis in das paralympische Programm 1992 unerschütterlich war, wurde also gebrochen. Besonders für de Groot mit ihrer Grand-Slam-Siegesserie kein gewohntes Gefühl. Mit ihrem Sieg in Wimbledon feierte sie ihren 23. Grand-Slam-Titel. Einer weniger als Novak Djokovic, der allerdings nur vier – und keine 15 – Titel in Folge gewinnen konnte.
Seit Juni 2018 hält de Groot ununterbrochen die Position als Weltrangliste und hat zahlreiche Rekorde gebrochen. Bereits 2021 hatte die Niederländerin bei den Paralympics Gold im Einzel gegen Kamiji gewonnen. Damals krönte sich de Groot Ende des Jahres mit einem „Golden Slam“. Dieser prestigeträchtige Erfolg umfasst den Sieg bei allen vier Grand-Slam-Turniere innerhalb eines Jahres sowie die Goldmedaille bei den Paralympics. Er ist eine der seltensten Errungenschaften im Tennis. Nur Steffi Graf erreichte diesen Erfolg im Jahr 1988, bevor de Groot 2021 gemeinsam mit Quad-Tennis-Spieler Dylan Alcott die ersten „Golden Slams“ im Rollstuhltennis feierte.
Unterschiede im Rollstuhltennis sind gewaltig
Das Niveau, auf dem Diede de Groot spielt, wurde auch Katharina Krüger bei den Paralympics deutlich. In der ersten Runde musste sich die einzige deutsche Teilnehmerin mit 1:6 und 0:6 geschlagen geben. „Ich kenne die Machtdemonstration aus meiner ganzen Karriere“, sagte sie nach ihrem Erst-Runden-Aus: „Die Niederländer produzieren stets herausragende Talente“. Gleich drei der Top-Vier aus der Weltrangliste kommen aus den Niederlanden.
Krüger führt den Unterschied vor allem auf das System in den Niederlanden zurück: „Es gibt hauptberufliche Trainer und Förderprogramme, die gezielt mit Schulen und Kliniken arbeiten, um Nachwuchs zu gewinnen“. Ihr Trainer Niklas Höfken fügt hinzu: „Der holländische Tennisverband hat seit vielen Jahren ein System entwickelt, das Rollstuhltennis sowohl finanziell als auch personell extrem fördert.“ In Deutschland gebe es oft nur ein Teilzeit-Profi-System. „Die niederländischen Spielerinnen können sich voll auf Tennis konzentrieren“, sagt Krüger. Sie hingegen arbeitet nebenbei 30 Stunden pro Woche.
Das Niveau an der Spitze wird enger
Doch die deutsche Tennisspielerin, selbst jahrelange Top-Zehn-Spielerin, stellt fest, dass sich die Lage verändert: „In den letzten Jahren sind immer mehr starke Spielerinnen aus Asien hinzugekommen.“ Sie habe das Gefühl, dass die niederländischen Spielerinnen nicht mehr die unbestrittene Macht sind, die sie einmal waren. „Sie gewinnen nicht mehr immer“, so Krüger.
Diese Einschätzung teilt auch die Weltranglisten-Dritte Aniek van Koot: „Ich glaube, dass unsere Konkurrentinnen stärker werden.“ Der Rollstuhltennissport wachse und auch andere Länder würden sich weiterentwickeln. „Jeder bringt sein Niveau nach oben, also sind wir gewarnt.“ Eine Warnung, die vielleicht zu spät kam.
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