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Im Sinne der Mannschaft: İlkay Gündoğan und seine neue Rolle im DFB-Team
Bei den jüngsten Länderspielen der deutschen Nationalmannschaft war Kapitän İlkay Gündoğan eher unauffällig. Das ist im Sinne des Erfolgs bei der EM durchaus so erwünscht.
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Wenn es um Fußball geht, besitzt Lothar Matthäus immer noch ein gutes Gespür für das, was gefragt ist. Als Experte fürs Fernsehen hat sich Deutschlands Rekordnationalspieler in den vergangenen Jahren ein Renommee erarbeitet, das er als aktiver Profi selten hatte. Das liegt möglicherweise daran, dass er mit seiner Expertise vielen Fans aus der Seele spricht.
Das war auch vorige Woche so, als er sich über İlkay Gündoğan, einen seiner Nachfolger als Kapitän der Nationalmannschaft, ausgelassen hat. Dessen Auftritte bei den jüngsten Länderspielen hatte Matthäus als „nicht Kapitän-like“ empfunden und deshalb die Vermutung geäußert, dass der Mittelfeldspieler des FC Barcelona bei der Europameisterschaft auf der Bank landen werde.
Die Stimmung in Teilen des Volkes ist ähnlich – vielleicht auch weil dessen Bild von einem Kapitän noch sehr stark geprägt ist von Leuten wie Lothar Matthäus: von kernigen Kerlen, die auch mal, sinnbildlich, auf den Tisch hauen. Gündogans Art ist das nicht. Er ist eher ein Vertreter der modernen Arbeitswelt, in der die Hierarchien flach sind und der Umgang untereinander respektvoll und wertschätzend.
Julian Nagelsmann, der Bundestrainer, ist in der Vorbereitung auf die Heim-EM mit Mutmaßungen konfrontiert worden, dass sein Kapitän während des Turniers seinen Stammplatz einbüßen könne. „Es mutmaßen ja viele Leute viele Dinge“, antwortete er vielsagend. Wenn die Nationalmannschaft an diesem Freitag mit dem Gruppenspiel gegen Schottland (21 Uhr, live im ZDF) die EM eröffnet, wird İlkay Gündoğan die Deutschen definitiv als Kapitän aufs Feld führen.
Es war noch Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick, der Gündoğan im September vergangenen Jahres zum Nachfolger von Torhüter Manuel Neuer ernannt hat. Nagelsmann aber hat keine Veranlassung gesehen, diese Entscheidung zu revidieren. Seine Wertschätzung für Gündoğan ist ähnlich groß, wie es Flicks Wertschätzung für Gündoğan war. Er ist „ein Spieler mit einem sehr feinen Füßchen, ein Zauberer, aber einer, der den Blick hat, für das große Ganze und extrem mannschaftsdienlich spielt“, sagt der Bundestrainer.
Gündogan, bald 34 Jahre alt, hat im Mittelfeld im Laufe seiner langen Karriere verschiedene Rollen ausgefüllt. Er war defensiver Sechser, Verbinder auf der Acht, aber auch offensiver Zehner. In der Nationalmannschaft ist er bedingt durch die Rückkehr von Toni Kroos nun wieder weiter nach vorne gerückt: in die offensive Dreierreihe mit den beiden jugendlichen Zauberern Jamal Musiala und Florian Wirtz.
Er ist ein Spieler mit einem sehr feinen Füßchen, ein Zauberer, aber einer, der den Blick hat für das große Ganze.
Bundestrainer Julian Nagelsmann über İlkay Gündoğan
Es ist vor allem dieses unruhige Umfeld, das Gündoğan Rolle nun entscheidend definiert. Es ist eine Rolle, die von ihm eine gewisse Unscheinbarkeit verlangt. „Wir haben drumherum mit Jamal, mit Florian viele Spieler, die ständig Eins-gegen-eins-Situationen kreieren und viel Risiko eingehen“, sagt Nagelsmann. Da sei Gündoğan einer, „der uns einfach Ruhe gibt, viel Struktur“.
Natürlich geht das auf Kosten des Spektakels. In den vier Länderspielen dieses Jahres hat Gündoğan nur zwei Torschüsse abgegeben und noch keinen einzigen Torschuss vorbereitet. Gegen Griechenland, beim letzten Test vor der EM, kam er vor der Pause auf ganze 16 Ballkontakte.
Gündogan wird auch im Team geschätzt
„Man muss schon die Balance sehen“, sagt Gündoğan. Das heißt eben, dass er auch mal seine Position hält, wenn um ihn herum alle frei drehen. „Ich schaue auf meine Mitspieler: Wie bewegen sie sich? Wie verhalten sie sich? Und wie kann ich meine Bewegungen daran anpassen?“, erklärt er. „Gerade, wenn man zwei Wirbelwinde, zwei Freigeister wie Jamal und Flo neben sich hat. Generell versuche ich ein Spieler zu sein, der seine Mitspieler besser macht.“
Im Sinne des großen Ganzen nimmt Bundestrainer Nagelsmann das bewusst in Kauf. Zweifel an Gündoğan hat er vorerst keine, und auch in der Mannschaft wird der Kapitän geschätzt. Jamal Musiala, 21, berichtete dieser Tage, dass Gündoğan einer der Spieler sei, „mit dem ich am meisten rumhänge. Wir haben eine ganz coole Beziehung.“
Torhüter Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona hat Gündoğan im Verein ähnlich erlebt wie jetzt in der Nationalmannschaft. „Er ist ein wichtiger Pfeiler für uns im Spiel, weil er sehr ausgeglichen ist als Mensch, auf dem Platz sehr ausgeglichen Fußball spielt, sehr gewissenhaft auch“, sagt ter Stegen. „Das war ein bisschen das, was gefehlt hat.“

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48 Pflichtspiele hat Gündoğan in seiner ersten Saison für Barça bestritten – weil er für das Team von großer Bedeutung war. So ähnlich scheint es nun auch in der Nationalmannschaft zu sein. In den jüngsten elf Länderspielen stand Gündogan immer in der Startelf.
Das ist durchaus bemerkenswert, denn seine Geschichte in der Nationalmannschaft ist trotz inzwischen 77 Länderspielen vor allem eine Geschichte der verpassten Möglichkeiten. Vor bald 13 Jahren, im Oktober 2011, hat Gündoğan sein Debüt für die DFB-Elf gefeiert, und trotzdem ist er bei großen Turnieren bisher noch kein einziges Mal in einem K.-o.-Spiel zum Einsatz gekommen.
Die Bilanz in der Nationalmannschaft kontrastiert auf das Schärfste mit den Erfolgen, die Gündoğan mit seinen früheren Klubs Borussia Dortmund und Manchester City gefeiert hat. Warum das so ist? „Das ist eine Frage, mit der ich mich schon das eine oder andere Mal auseinandersetzen musste“, sagt er.
Anfangs seien seine Auftritte in der Nationalmannschaft richtig gut gewesen – weil das ganze Team gut und erfolgreich gewesen sei. Seit 2018 mit drei enttäuschenden Turnieren nacheinander ist das anders. „Dadurch ist auch jeder Spieler nicht dahingekommen, wo er hinkommen kann“, sagt Gündoğan. „Bei mir wird das ein bisschen mehr hervorgehoben. Aber wir waren als Mannschaft nicht gut genug.“
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