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Kommntar: Nach Elfmetern 4:4. Und nun?

Afrika! Paddy konnte kaum fassen, dass er tatsächlich hier war. Er hatte natürlich gehofft, dass er seine Jungs spielen sehen würde, die Iren, mit ihrem Kämpferherz, vielleicht nicht die besten, aber ganz sicher die tapfersten Fußballer des Universums. Von Harald Martenstein

Irland war durch ein mit der Hand erzieltes Tor des Franzosen Thierry Henry um die WM betrogen worden – die ganze Welt hatte das gesehen. So eine Ungerechtigkeit hatte es, soweit Paddy sich erinnerte, noch nie gegeben, noch nie. Er wusste gar nicht mehr, wie viele nüchterne oder betrunkene Fans aus aller Welt ihm zuletzt auf die Schulter geklopft hatten. „Ihr seid die wahren Champions! Ihr seid Weltmeister der Herzen!“ Alle liebten die Iren. So gesehen, war es gar nicht so übel, ein Ire in Südafrika zu sein.

Nun saß er, zusammen mit sechs oder sieben Landsleuten und fast 100 000 anderen, im Stadion Soccer City, Johannesburg. Endspiel. Und zwar ein Endspiel mit der schlimmstem aller denkbaren Kombinationen: Italien gegen Frankreich. Wie vor vier Jahren.

Beide Mannschaften waren nicht gerade als Favoriten nach Afrika gekommen. Italien, der Titelverteidiger, spielte dann auch so schwach wie vielleicht noch nie. Und Frankreich? Frankreich war ein Witz. Langsam, unbeholfen. Frankreich wurde, wegen des Betrugs an den Iren, überall ausgepfiffen.

Aber Fußball ist ein Wunder. Fußball ist nicht gerecht. Frankreich und Italien rumpelten und mogelten sich irgendwie durch – hier ein zu Unrecht gegebener Elfmeter, dort ein Abseitstor, oder einfach nur Glück. Früher mal standen die Deutschen in diesem Ruf, aber die Deutschen spielten diesmal recht gut und verloren erst im Halbfinale, gegen Italien, durch einen mit beiden Händen vom verdammten Materazzi ins Tor geworfenen Ball. Brasilien? Ausgeschieden, weil das halbe Team von einem rätselhaften Virus niedergestreckt wurde. Elfenbeinküste? Traumfußball, aber dann der interne Streit über nicht ausgezahlte Prämien. Spanien? Galaktisch. So selbstbewusst, dass sie im Halbfinale gegen das lächerliche Frankreich ihre zweite Mannschaft antreten ließen, die dann ein Eigentor fabrizierte.

Nach 90 quälenden Minuten, den langweiligsten, temperament- und niveaulosesten Minuten der WM-Final- Geschichte, stand es 0:0. Nach der Verlängerung stand es immer noch 0:0. Das Elfmeterschießen endete, nachdem alle Spieler ihr Glück versucht hatten, mit einem beschämenden 4:4. Auf Anhieb wusste niemand, wie es jetzt weitergehen sollte. Zweites Elfmeterschießen? Los? Wiederholung des Endspiels? Es kam anders.

Paddy sah, wie, im Geräusch-Tornado aus Pfiffen und Vuvuzelas, zuerst einige, dann zehntausende Zuschauer weiße Taschentücher schwenkten. Das hieß: Geht nach Hause! Die Schiedsrichter bewegten sich gerade in Richtung Mittelkreis, als sich in der Ehrenloge der alte Mann mühsam erhob. Da schwiegen die Vuvuzelas, die Schiedsrichter hielten inne. Im Stadion war es totenstill.

„Es war kein gutes Spiel“, sagte der alte Mann, er war heiser, doch hörten alle seine Stimme. „Ich glaube, wir haben heute keinen Weltmeister gesehen. Ich glaube, wir sollten diesmal, bei uns in Afrika, im Kontinent der Wunder und der Magie, etwas Neues ausprobieren. Sind zufällig Iren im Stadion?“

Als Paddy aus der Hand von Nelson Mandela den Pokal überreicht bekam, stellvertretend für Irland, die erste Nation, die per Akklamation durch das Publikum, die Offiziellen, die Schiedsrichter und die Gastgeber zum Weltmeister ausgerufen wurde, am Ende sogar mit widerwilliger Zustimmung von Italien und Frankreich, da wusste er: Ein neues Zeitalter hatte begonnen. Nach vielen Jahren, in denen ihm dieser dumme Zeitvertreib völlig egal war, hatte, hier in Afrika, endlich auch Gott sein Interesse am Fußball entdeckt. Er würde Irland nie wieder verlassen.

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