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Die Gaza Sunbirds im Teamfoto

© GazaSunbirds; Mohamed Soleimane

Träume aus Trümmern: Die Gaza Sunbirds und der Traum von den Paralympics

Alaa al-Dali wollte es aus dem Gazastreifen bis nach Paris schaffen. Doch nach dem 7. Oktober nutzte der Para-Radsportler sein Rad für Hilfsaktionen.

Von Tim Hensmann

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Alaa al-Dali und die Gaza Sunbirds befanden sich zu Beginn des vergangenen Oktobers voll im Training. Der 27-jährige Palästinenser wollte es bis nach Paris schaffen und der erste Para-Radsportler sein, der die Farben seines Landes bei den Paralympics repräsentiert. Doch seit der Angriff der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 den Krieg im Gazastreifen ausgelöst hatte, sei daran vorerst nicht mehr zu denken gewesen, erzählt al-Dali Ende Juli.

Kurze Zeit nach dem Angriff war er in einem Video auf Instagram zu sehen, wie er sein Fahrrad durch die engen, staubigen Gassen von Rafah schiebt. In einer Kiste und mehreren Plastiktüten transportierte er Brot, das er an Familien in der Stadt im Süden des Gazastreifens verteilte. Das Video zeigte die erste von unzähligen weiteren Hilfsaktionen der Gaza Sunbirds.

Der Name der gemeinnützigen Organisation bezieht sich auf den palästinensischen Sonnenvogel – laut al-Dali ein Symbol der Freiheit und Entschlossenheit. Die Sunbirds wollten mit ihrer Gründung vor vier Jahren palästinensische Para-Sportler im Radsport fördern und sie auf internationale Wettkämpfe vorbereiten.

„Vögel kennen keine Grenzen“, sagt Alaa al-Dali, „sie sind freie Kreaturen, die keine Beine brauchen, um zu fliegen.“ Er selbst hatte nach einer Schussverletzung durch einen israelischen Soldaten vor sechs Jahren sein rechtes Bein verloren. Bis dahin hatte er zu den besten Radsportlern seines Landes gezählt.

Während viele NGOs nach dem 7. Oktober aus Sicherheitsgründen ihre Arbeit einstellten, entschieden sich die Trainingspartner der Gaza Sunbirds, selbst aktiv zu werden. „Wir hatten weder Benzin, noch Strom, noch Wasser“, erzählt al-Dali von der Zeit im Oktober: „Aber wir mussten etwas tun.“ Um ihre ersten Hilfsaktionen zu finanzieren, verzichteten die Sportler laut Team-Manager Karim Ali anfangs auf Gehalt.

Fast 500.000 Euro Spenden

Ein paar Mal hatte die Trainingsgruppe seither noch gemeinsame Trainingstouren gewagt. Einmal soll ganz in der Nähe eine Bombe eingeschlagen sein. „Ich habe gedacht, dass ich sterben werde“, sagt al-Dali. Die Bilder der Trümmer, unter denen Menschen um Hilfe schrien, brannten sich bei ihm tief ein.

Die Sunbirds verurteilen „jegliche Form von Gewalt gegen Zivilisten“, sagt Karim Ali – das betreffe sowohl den Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober, bei dem rund 1200 Jüdinnen und Juden getötet und 251 Menschen als Geiseln verschleppt wurden, als auch das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen, dem bislang zehntausende Menschen zum Opfer fielen.

Videos ihrer Hilfsaktionen teilten sie in den sozialen Medien, in der Hoffnung auf Unterstützung. Und die Resonanz war laut Ali überwältigend: „Das Vertrauen in die Arbeit des Teams wuchs, und die Menschen begannen zu spenden.“ Über 500.000 Dollar (447.000 Euro) seien nach Alis Auskunft bislang zusammengekommen. Laut der Website der Gaza Sunbirds wurden davon bislang über 280.000 Dollar (251.000 Euro) verbraucht. Bis Anfang Juli konnten unter anderem 72.000 Essenspakete, 7000 warme Mahlzeiten und über 200 Zelte an Bedürftige verteilt werden.

Die Gaza Sunbirds haben mehr als 72.000 Essenspakete verteilt.

© GazaSunbirds; Mohamed Soleimane

Hin und her und her und hin

Für Alaa al-Dali ist das Radfahren schon immer mehr gewesen als nur Sport. „Es ist der einzige Moment, an dem ich zur Ruhe komme“, sagt er. Der Mittelpunkt seines Lebens. Im Alter von sechs Jahren habe ihm sein Vater sein erstes Fahrrad geschenkt. „Es war viel zu groß“, sagt al-Dali und lacht: „Aber ich liebte es.“ Als Jugendlicher trainierte er für seinen Traum, eines Tages bei den Olympischen Spielen zu starten. Al-Dali nutzte dafür die mit 45 Kilometern längste Straße im Gazastreifen – und fuhr viermal am Tag zwischen Rafah und Gaza-Stadt hin und her. 2018 schien Olympia für ihn so nah wie nie zuvor. Als nationaler Meister seines Landes qualifizierte sich al-Dali für die Asienspiele in Jakarta. Es hätten seine ersten internationalen Wettkämpfe werden sollen. Doch es kam anders.

Alaa al-Dali bei einem Rennen in Gaza-Stadt 2021.

© imago images/NurPhoto

Im März des gleichen Jahres nahm er am ersten sogenannten Marsch der Rückkehr teil. Von da an wöchentliche Proteste, bei denen sich Bewohner des Gazastreifens an der von Israel bewachten Grenze versammelten, um ein Ende der Blockade zu fordern. Al-Dali selbst wollte dort nach eigener Auskunft für die Rechte der palästinensischen Sportler eintreten, damit sie an Wettkämpfen im Ausland teilnehmen können.

Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten. Tausende Palästinenser näherten sich dem Grenzzaun zu Israel, einige warfen Steine auf Soldaten und rollten brennende Reifen in Richtung des Zauns. Die israelische Armee reagierte mit Schüssen.

Dem Albtraum folgt ein neuer Traum

Laut einem UN-Bericht hatte al-Dali in Trainingsklamotten mit seinem Fahrrad 300 Meter entfernt vom Grenzzaun gestanden und die Demonstration beobachtet, als ihn eine Kugel traf. „Ich dachte, es sei ein schlechter Traum“, erzählt er. In den Tagen darauf verschlechterte sich sein Gesundheitszustand massiv. Den Ärzten blieb nur eine Möglichkeit, um sein Leben zu retten „Wenn wir dein Bein nicht amputieren, wirst du sterben“, erinnert er sich an ihre Worte.

Wenige Wochen nach der Operation saß al-Dali schon wieder auf dem Rad. Seine Freunde hielten ihn für verrückt, sagt er. Doch er wollte das Gefühl von Freiheit wiederfinden. „Früher bin ich geflogen wie ein Vogel. Ich war superschnell“, erzählt er: „Doch dann musste ich das Radfahren neu lernen.“ Es sei schwer gewesen zu akzeptieren, „dass ich nur noch mit einem Bein auf dem Rad sitze“.

Es sei nicht mehr so kraftvoll gewesen, habe sich nicht mehr nach derselben Leichtigkeit und Geschwindigkeit wie früher angefühlt. Seine ersten Versuche reichten nur wenige hundert Meter weit, gepflastert von unzähligen Stürzen. Doch es war der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Ein Tritt nach vorne, um den Traum, den er nicht aufgegeben hatte, weiter zu verfolgen. Er wollte es jetzt zu den Paralympics schaffen.

Sie kamen in Jeans und Ledersandalen

Alaa al-Dali über die anfängliche Suche nach Trainingspartnern

Die Suche nach Trainingspartnern habe sich schwierig gestaltet. „Ich konnte anfangs niemanden finden“, erzählt al-Dali. Zusammen mit Karim Ali, den er 2019 kennengelernt hatte, gründete er schließlich die Gaza Sunbirds. Ali übernahm von London aus das Management und startete ein Crowdfunding.

Ende 2021 trafen sich dann einige Interessierte zum Trainingsauftakt in einem Fitnessstudio in Rafah. „Sie kamen in Jeans und Ledersandalen“, lacht al-Dali. Einige der benötigten Räder schmuggelten sie ins Land, weil die israelische Regierung die Einfuhr von Waren stark eingrenzt. Andere bauten sie sich aus gebrauchten Teilen zusammen. Es fehlten auch spezielle Radschuhe. „Wir banden dann einfach das Bein mit einem Seil an das Pedal“, erinnert sich al-Dali.

Dann ging es los. Bis Anfang Oktober trainierten laut Team-Manager Ali rund 20 Athleten aus dem gesamten Küstenstreifen fünfmal die Woche. Mit Ausbruch des Krieges wurde das Team auseinandergerissen. Einige blieben in Gaza-Stadt, andere in Rafah, wo schließlich die Hilfsaktionen begannen, die laut Ali bis heute laufen. 90 Prozent der Produkte würden im Gazastreifen eingekauft. Dafür arbeite man eng mit Landwirten und anderen NGOs zusammen. Bei den Auslieferungen bauen die Sunbirds mittlerweile auf breite Unterstützung.

Nach der Flucht das Weltcup-Debüt

Alaa al-Dali ist an den Aktionen nicht mehr beteiligt. Im April war es Ali gelungen, für Sunbirds-Trainer Hassan Abu Harb, Teammitglied Mohammed Asfour und al-Dali Visa zu beschaffen. Wie genau – lässt er offen. „Die Israelis und Ägypter sind nicht erfreut, wenn man über solche Details spricht“, sagt Ali nur. Für al-Dali sei es jedoch ein harter Schritt gewesen, seine Familie zurückzulassen, sagt er im Videotelefonat: „Aber ich wollte unbedingt die palästinensische Flagge auf der Weltbühne zeigen.“ Er wirkt ruhig und schluckt, als Ali ergänzt: „Jedes Mal, wenn Alaa sich auf den Weg zum Training macht und zurückkommt, kann er nicht sicher sein, ob seine Familie noch lebt.“ Die ständige Angst verfolge al-Dali wie ein Schatten.

Auf ihn und Asfour wartete nach der Flucht das Weltcup-Debüt. Als erste Para-Radfahrer ihres Landes nahmen sie an internationalen Wettkämpfen teil und starteten in Ostende und Maniago, wo es noch um die letzten Qualifikationspunkte für die Paralympics in Paris ging. Al-Dali und Asfour waren die einzigen beiden Fahrer, die ohne Prothesen ins Rennen gingen. Sie verpassten die Punkteränge deutlich.

Bei den Asienmeisterschaften in Kasachstan kurz darauf im Juni sammelte al-Dali mit Platz fünf schließlich seine ersten Weltranglistenpunkte und qualifizierte sich für die Weltmeisterschaft im September in Zürich. Für die Paralympics kam sein internationales Debüt jedoch zu spät. Auch eine Wildcard gab es nicht.

Der Beste seines Landes: Al-Dali vertritt Palästina bei der WM in Zürich.

© GazaSunbirds; Mohamed Soleimane

„Alaa ist natürlich sehr enttäuscht“, sagt Manager Karim Ali: „Er hat so viel geopfert.“ Doch al-Dali, der sich zurzeit in Italien aufhält, will weiter trainieren, um sich seinen Traum irgendwann noch zu erfüllen. Tritt für Tritt. Die nächste Premiere wartet schon. Mit ihm wird nun erstmals ein Para-Radsportler aus Palästina auch bei einer WM starten – für die Gaza Sunbirds ein großer Erfolg und ein starkes Zeichen. „In der Politik wird unser Staat oft nicht anerkannt“, sagt Alaa al-Dali: „Aber bei Wettkämpfen tragen wir unsere Flagge mit Stolz – so wie jede andere Nation auch.“

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