Paralympics-Tagebuch (2): Wenn die Vorstellung Wirklichkeit wird

Es ist der Tag der Paralympics-Eröffnungsfeier. Zwanzig Jugendliche aus Deutschland und Großbritannien sitzen bei der Redaktionskonferenz im Londoner Gebäude der englischen Lehrergewerkschaft. Wir bangen. Denn die Tickets für die Eröffnungszeremonie reichen nicht für alle. Wir hoffen alle darauf, die große Feier miterleben zu können. Chefredakteurin Karin kündigt eine Ticketlotterie für uns an, schreibt unsere Namen auf Zettel. Die Anspannung knistert im Raum. Karins Kollegin Clara zieht zwei Zettel. Dann lächelt Karin scheinbar entschuldigend. „Wir haben Tickets für euch alle bekommen.“, überrascht sie. Mit Freuderufen wandelt sich die Anspannung zur elektrisierenden Vorfreude. Nun können wir – im wahrsten Sinne des Wortes – wirklich alle einen Teil der Geschichte der Paralympics schreiben.

Als wir auf das Stadion zugehen, holt uns der Geist von Olympia schon auf. Die umherwirbelnden Menschen stecken uns mit ihrer Vorfreude an. Und obwohl wir als Team nicht alle zusammensitzen können, sind wir dennoch durch die Idee des Sports miteinander verbunden.

Aber was wäre eine Eröffnungsfeier ohne eine Herausforderung für uns frische Journalisten. Wir sind schon nah an unserem Ziel, als wir einen Police Officer nach dem Weg zu den Presseplätzen fragen. Er deutet auf einen Eingang abseits des Stadions und sagt, wir müssen dort hingehen. Ohne Probleme kommen wir mit unseren Presseakkreditierungen durch den gesicherten Bereich – und merken schnell, dass dieser Weg nicht der richtige zu unseren Plätzen sein kann. Wir sind in einem Arbeitsbereich für die vielen Freiwilligen, die sich auch an diesem Tag enthusiastisch um das Stadium tummeln. Wir versuchen wieder rauszukommen. Ein Sicherheitsmann hält uns auf. „Ihr braucht einen gelben Sticker auf der Akkreditierung, um hier wieder herauszukommen“, erklärt er uns auf Englisch. Wir diskutieren, laufen umher, suchen die gelben Sticker, erfahren, dass es nicht genug für uns gibt, um herauszukommen, bis eine Dame die Bürde auf sich nimmt, uns zwei Meter durch die Absperrung hinauszuführen. Endlich sind wir wieder vor dem Stadion. Wir beeilen uns, um rechtzeitig zu unseren Plätzen zu gelangen.

Als sich das Panorama des riesigen Stadions sich vor uns öffnet, staune ich. Monatelange Recherche und Vorbereitung werden in diesem Moment mit der überwältigenden Freude belohnt ein Teil der großen Weltveranstaltung Paralympics zu werden. Es erfüllt mich zu wissen, dass das, was vorher Vorstellung und Wissen war, nun ein Teil unserer Wirklichkeit wird.

Bildergalerie: Die Eröffnungsfeier der Paralympics

Als wir im Pressebereich ankommen, bin ich positiv überrascht, wie viel Mühe man sich mit uns Journalisten gibt. Wir setzen uns an die Tische, die mit einer Lampe und Regenschutz ausgerüstet sind. Vor uns erstreckt ein Meer von leuchtenden Computerbildschirmen. Wir sehen, wie Fotografen vorne rechts schon sorgfältig ihre Kameras samt Stativen aufstellen. Kurze Zeit später beginnt die spektakuläre Show, die durch die Idee des „Enlightenment“ – der Aufklärung führt.

Kaum zu glauben: Die Queen sitzt nicht weit entfernt von uns

Eröffnet wird sie von Großbritanniens größtem noch lebendem Physiker Stephen Hawking. Die Verknüpfung von Wissenschaft und Sport, bleibt über die gesamte Eröffnungsfeier ein wiederkehrendes Motiv. Hawkings Worte bewegen alle Besucher des Stadiums „Die Paralympischen Spiele bewirken einen Wandel im Bewusstseins der Weltgemeinschaft. Obwohl wir alle unterschiedlich sind, teilen wir den gleichen Geist der Menschheit. Was wichtig ist, ist die Fähigkeit zu Erschaffen. Wie schwer das Leben auch sein mag, es gibt immer etwas, was du mit Erfolg machen kannst.“ Mit seinen Worten festigt er die Botschaft der Eröffnungsfeier. Es geht um Visionen und die Erfüllung von paralympischen Werten wie Gleichheit und Integration. Die symbolträchtige Feier voller Feuerwerke, Performances und feurigen Reden, überwindet so während der Performances die Schwerkraft, die Grenzen der uns bekannten Welt und setzt damit ein starkes Zeichen für den Behindertensport.

Nicht weit von uns setzt sich die Royal Family auf ihre Plätze. Wir können es kaum glauben, so nah bei der Königin von England zu sein. Als ich mit dem Teleobjektiv meiner Kamera heranzoome stelle ich auch fest, dass Premierminister Cameron, Kate und ihr William auf derselben Tribüne sitzen. Mit ihrem Auftritt und der Eröffnung beider Spiele, steht auch die Queen für die Gleichberechtigung beider Sportereignisse, Olympia und Paralympics.

Unsere Augen leuchten schließlich auf, als die Schwimmerin Daniela Schulte die deutsche Flagge ins Stadion trägt. Beim Einmarsch der Nationen begrüßen wir lautstark die deutsche Mannschaft im Stadion. Meine Teamkollegen sind von der Feier gerührt. „Es ist schwer, alles in Worte zu fassen. Was ich gerade erlebe, übersteigt die Wirklichkeit.“, sagt Karla. Auch Benjamin fühlt „Gänsehaut pur. Ich habe selten so einen bewegenden Moment erlebt, wie in diesem gewaltigen Lichtermeer.“

Mit dem Entzünden des Paralympischen Feuers, erreicht die Zeremonie für mich ihren Höhepunkt. Die jahrelange Tradition verbreitet in diesem Moment eines der ältesten und bedeutendsten Symbole der Menschheitsgeschichte. Hoffnung und Kraft, Selbstbestimmung und Freiheit entfacht sich mit dem Brennen der Flammen im gesamten Stadion. Wir alle fühlen uns als ein Teil davon. Solange diese Begeisterung weiterbrennt, werden auch wir Stärke in London, in Deutschland, in der Welt finden. Und diese  Stärke können wir auch in den nächsten elf Tagen durch die Leistungen, den Schweiß und das Streben der Sportler einfangen und mit der „Paralympics Zeitung“ in die Welt hinausschicken.

Alexander Kauschanski