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Protest gegen das Wahlergebnis: Trump-Anhänger vor dem Georgia State Capitol

© dpa/AP/Ben Gray

„Der Showdown aller Showdowns“: Wie Trumps Truppen in Georgia zum letzten Gefecht mobilisieren

Auch in Georgia wurde Biden zum Sieger ausgerufen. Wie er regieren kann, hängt nun an zwei Senatssitzen – für die Republikaner „die letzte Verteidigungslinie“.

Sie sollen verhindern, dass die Welt untergeht. So sehen das zumindest ihre Fans. Schwungvoll laufen die beiden auf die Bühne, die in rot-weiß-blaue Stoffbahnen eingeschlagen ist. Sie winken in die Menschenmenge, klatschen sich ab. Dazu dröhnt „Working for the weekend“ von Loverboy aus den Lautsprechern. „Everyone is watching to see what you will do“, heißt es in dem Song, „everyone is looking at you“ – Alle warten ab, was du jetzt machen wirst. Alle schauen auf dich. Die wartenden Fans schwenken die Arme, zücken die Handys.

„Oh mein Gott, Georgia! Wir sind das Schlachtfeld, die Frontlinie“, ruft die schlanke Frau mit den langen blonden Haaren, die als erste spricht. Jubel brandet auf. Das wollen sie hier hören, genauso fühlen sich wohl viele Zuhörer an diesem Novembertag auf der Wiese am Chattahoochee Technical College in Canton, gut 40 Kilometer von Georgias Hauptstadt Atlanta entfernt: wie in einer Schlacht, in der es um alles geht.

Auf Georgia schaut in diesen Tagen das ganze Land

Schon fast drei Wochen ist es her, dass Amerika gewählt hat. Aber der Wahlkampf hört nicht auf. Immer noch wird ausgezählt, und obwohl längst klar ist, dass der nächste US-Präsident Joe Biden heißen wird, weigert sich der Unterlegene mit aller Macht, seine Niederlage anzuerkennen. Donald Trumps Wahlkampagne versendet lieber in zunehmender Taktung alternative Fakten, Durchhalteparolen und Spendenaufforderungen, ganz so, als ob einfach alles so weitergehen könnte wie bisher.

An diesem Freitagmittag auf der Wiese fühlt es sich aber nicht nur nach Wahlkampf an, es ist tatsächlich schon wieder soweit. Mehrere hundert Trump-Anhänger sind gekommen, mit den üblichen roten „Make America Great Again“-Kappen, Kampagnen-T-Shirts, manche mit Cowboyhüten. Auf der Bühne die unverzichtbaren Amerika-Flaggen, dahinter viele Wahlkampfschilder. Der Himmel blau, 23 Grad Mitte November – die Stimmung ist aufgekratzt.

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Kein Wunder, denn es stimmt ja: Auf das eigentlich verlässlich konservative Georgia, den südlichsten der 13 amerikanischen Gründerstaaten, schaut in diesen Tagen das ganze Land. Und das gleich aus mehreren Gründen. Hier muss der republikanische Gouverneur Brian Kemp später am Freitag nach einer per Hand ausgeführten Neuauszählung die Ungeheuerlichkeit bestätigen, dass Joe Biden wirklich mit einem Vorsprung 12.670 Stimmen gesiegt hat – als erster demokratischer Präsidentschaftskandidat seit Bill Clinton 1992.

Hier findet zudem die erste Wahl des kommenden Jahres statt, und gleich eine mit enormer Bedeutung. Am 5. Januar entscheidet sich in einer doppelten Stichwahl nicht nur, wer den Bundesstaat die nächsten Jahre im Senat in Washington vertreten wird. Sondern auch, mit wie viel Widerstand oder Rückenwind Joe Biden seine Präsidentschaft beginnen wird. Keiner der Kandidaten hatte am 3. November die vorgeschriebenen mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten, darum ist eine zweite Abstimmung über gleich zwei Senatssitze notwendig.

Vizepräsident Mike Pence bei einem Wahlkampfauftritt in Georgia.
Vizepräsident Mike Pence bei einem Wahlkampfauftritt in Georgia.

© imago images/ZUMA Wire

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Die neugewählten Senatoren sichern entweder die republikanische Macht in dieser einflussreichen Kongresskammer. Oder sie verhelfen den Demokraten zur ersehnten 50-50-Stimmengleichheit, die diese dann, so sieht es die Verfassung vor, mit Hilfe der designierten Vizepräsidentin Kamala Harris als „tie breakerin“ knacken könnten. Das gäbe Biden eine immerhin knappe Mehrheit in beiden Kongresskammern, um seine Politikvorhaben umzusetzen. Vielleicht sogar so ehrgeizige im Klimaschutz- oder Gesundheitsbereich, wie der linke Flügel seiner Partei es sich erhofft.

„Brandmauer gegen den Sozialismus“

Das soll wiederum das Senatoren-Duo Kelly Loeffler und David Perdue unbedingt verhindern, denn genau davor graut es den Konservativen. Die beiden Amtsinhaber sind die Verteidiger: die „last line of defense“, die „Brandmauer gegen den Sozialismus“, wie Loeffler zu Beginn der Wahlkampf-Rallye auf der Wiese in Canton ins Mikrofon ruft. An diesem Tag ist sogar Vizepräsident Mike Pence eigens aus Washington eingeflogen, um die nationale Bedeutung des Rennens zu unterstreichen. Und vielleicht auch, um anzudeuten, dass seine eigene Zeit noch nicht vorbei ist. Egal, was noch passieren wird.

Kämpfen um ihre Sitze: Senator David Perdue und Senatorin Kelly Loeffler bei einem Wahlkampfauftritt.
Kämpfen um ihre Sitze: Senator David Perdue und Senatorin Kelly Loeffler bei einem Wahlkampfauftritt.

© Megan Varner/Getty Images/AFP

Vor ihm sind bereits andere prominente Vertreter der Republikanischen Partei nach Georgia gekommen. Zum Beispiel Marco Rubio, der Senator und ehemalige Präsidentschaftsbewerber seiner Partei, von dem viele erwarten, dass er 2024 noch einmal Anlauf aufs Weiße Haus nimmt. Außerdem der zweite Senator aus Florida, Rick Scott, sowie Arkansas’ Senator Tom Cotton, beide gelten ebenfalls als „presidential hopeful“.

Als Pence spricht, ändert er den Satz Loefflers ganz leicht ab: Die zwei Senatoren „könnten“ die „last line of defense“ sein, sagt er. „Könnten“ – eine kleine, aber entscheidende Änderung. Nur wenn die Republikaner und allen voran Präsident Trump nämlich endlich eingestehen, dass sie das Weiße Haus verloren haben, wird die Senats-Stichwahl zur letzten Verteidigungslinie der Konservativen in ihrem Kampf gegen den angeblich drohenden „Sozialismus und Kommunismus“. Denn im Repräsentantenhaus haben die Demokraten schon jetzt das Sagen.

Öffentlich die Niederlage Trumps zugeben, das kann dessen Vize nicht. Aber er spricht anders als der Noch-Präsident nicht davon, dass die Demokraten die Wahl „stehlen“ wollten, sondern nur davon, dass „jede legale Stimme“ gezählt und jede illegale aussortiert werden müsse. Wenn das geschehe, sagt Pence, dann werde Trump gewinnen. Es ist eine Aussage, die viel Interpretationsspielraum lässt. Aber der für seine Vasallentreue bekannte Vize erweckt damit nicht den Eindruck, dass er mit Trump untergehen will, wenn der dann eben doch nicht gewinnt.

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Wie sehr der widerspenstige Trump mit seinem Versuch, ein legitimes Wahlergebnis zu torpedieren, das Senatsrennen in Georgia beeinflusst, darüber gehen die Meinungen auseinander. Hilft es Loeffler und Perdue, dass der oberste Wahlkämpfer Trump im Hintergrund doch noch eine große Rolle spielt – und vielleicht gar selbst in den kommenden Wochen noch vorbeischaut? Beziehungsweise schadet es umgekehrt ihren Herausforderern Jon Ossoff und Raphael Warnock, dass es nicht mehr hauptsächlich um die Abwahl von Trump geht, es manchem Wähler also womöglich an der entsprechenden Motivation fehlen könnte, die in Georgia für ein Rekordwahlbeteiligung sorgte?

Populär bei Spendern und Lifestyle-Magazinen

Am späten Donnerstagnachmittag treten die beiden Herausforderer gemeinsam vor einer Kirche in Jonesboro auf, einem Vorort von Atlanta, der zu Clayton County gehört. Clayton County war der Bezirk, mit dessen Ergebnissen Georgia bei der Auszählung endgültig an Biden ging. Darauf sind sie hier stolz.

Vielleicht hundert Unterstützer sind zu der „Get out the vote“-Rallye gekommen. Im prallen Sonnenschein stehen sie – natürlich mit Masken – auf genau markierten Positionen, so dass der in Corona-Zeiten empfohlene Abstand eingehalten werden kann.

Auch hier läuft laute Musik, und ein Redner nach dem anderen schwört die Unterstützer ein. Sind sie genügend elektrisiert, so der Plan, motivieren sie viele andere, ihre Stimme abzugeben. Von Trump ist hier wenig die Rede, mehr davon, wie wichtig die nächste Wahl ist und warum dafür die richtigen Kandidaten gefunden worden sind.

Hoffnungsträger: Raphael Warnock (links) und Jon Ossoff bei einem gemeinsamen Wahlkampfauftritt.
Hoffnungsträger: Raphael Warnock (links) und Jon Ossoff bei einem gemeinsamen Wahlkampfauftritt.

© Elijah Nouvelage/Getty Images/AFP

Wie Loeffler und Perdue hoffen auch Ossoff und Warnock, dass sie als Duo bessere Chancen haben. Bei ihnen ist es sogar noch wichtiger als bei den beiden Republikanern: Nur ein Doppelsieg würde bedeuten, dass es mit Harris’ „tie breaker“-Stimme im Senat künftig zu mehr als einem Patt reicht. Dafür müssen aber ihre Wähler auch zur Wahl gehen.

Viel gemeinsam haben die beiden nicht, auch wenn das kein Nachteil sein muss. Ossoff gilt als potenzieller Shooting-Jungstar: Der attraktive, dunkelhaarige 33-Jährige, ein Medienunternehmer jüdischen Glaubens, der in Georgetown und an der London School of Economics studierte, trat erstmals 2017 auf der großen politischen Bühne auf. Bei einer „Special election“ für das Repräsentantenhaus in Washington kandidierte er in einem traditionell konservativen Wahlkreis und unterlag überraschend knapp.

Aufmerksam registriert wurde schon damals, wie gerne Spender ihre Taschen für den jungen Mann öffneten und selbst große Lifestyle-Magazine über ihn berichteten. Nun will er David Perdue, den 70-jährigen Ex-CEO der Sportsmarke Reebok und Bruder des ehemaligen Gouverneurs von Georgia, Sonny Perdue, aus dem Senat vertreiben. Keine leichte Aufgabe.

„Wir haben Schockwellen durchs Land geschickt“

Aber Ossoff zeigt sich optimistisch – und ausdauernd: Kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht im Großraum Atlanta auftritt, für sich wirbt und freundlich Fragen beantwortet. Und schon in diesen ersten Wochen nach der Wahl hat er rund 40 Millionen Dollar an Spendengeldern mobilisiert – eine rekordverdächtige Summe, aber Beobachter rechnen ohnehin damit, dass dieser so aufgeladene Wahlkampf Rekordsummen verschlingen wird. Von bis zu 500 Millionen Dollar ist die Rede.

Nach dem gemeinsamen Event mit Warnock stehen die Zuhörer teils mehr als eine halbe Stunde in der Schlange, um ein Erinnerungsfoto mit Ossoff zu ergattern, die meisten von ihnen sind schwarz. Knapp drei von vier Einwohner von Clayton County sind Afroamerikaner. Der Funke scheint überzuspringen: Ein zwölfjähriges Mädchen bricht gar in Tränen aus, so sehr hat sie sich auf diesen Moment gefreut.

Unterstützerinnen der demokratischen Kandidaten Raphael Warnock und Jon Ossoff.
Unterstützerinnen der demokratischen Kandidaten Raphael Warnock und Jon Ossoff.

© Elijah Nouvelage/Getty Images/AFP

In seiner dunklen Anzugshose und dem bis zu den Ellenbogen hochgekrempelten hellblauen Hemd erinnert Ossoff an einen anderen Hoffnungsträger der Demokratischen Partei: den Texaner Beto O’Rourke, der 2018 nur knapp daran scheiterte, einen Senatssitz zu erobern, dann aber als Präsidentschaftsbewerber 2019 früh erkennen musste, dass er im innerparteilichen Wettstreit keine Chance gegen Biden hat. Angesichts einer drohenden zweiten Amtszeit von Trump war der Partei Erfahrung wichtiger als frischer Wind.

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Auch wenn Raphael Warnock erstmals für ein politisches Amt kandidiert, gilt der 51-jährige Afroamerikaner, der 2013 bei Barack Obamas zweiter Amtseinführung eine Predigt hielt, doch als der Erfahrenere des Duos. Der Pastor der Ebenezer Baptist Church, in der auch Martin Luther King predigte, tritt gegen Kelly Loeffler an, die 49-jährige Republikanerin, die wegen ihrer Ehe mit Jeffrey Sprecher, dem Vorsitzenden der New York Stock Exchange, als reichstes Mitglied des US-Kongresses gilt.

Warnock spricht am Donnerstag viel über „Dr. King“, dessen Arbeit er fortsetzen will – zum Beispiel beim Kampf für die Wählerrechte. „Ich bin heute hier, um euch zu sagen: Das ist unsere Zeit, unsere Zeit, um für unsere Rechte aufzustehen. Seid ihr dafür bereit?“ Wie in einem Gospel-Gottesdienst rufen die Zuhörer: „Yeah!“, nicken und strecken ihre Arme in die Luft.

„Am 3. November haben wir Schockwellen durchs Land geschickt“, sagt Warnock, Aber wenn die Wähler in Clayton das im Januar nicht wiederholten, sei alles umsonst gewesen. Der Pastor soll die Stimmen der Afroamerikaner mobilisieren, er spricht ihre Sprache, die in ihrer Melodie manchmal an Obama erinnert. Davon soll auch sein „Freund“ Jon Ossoff profitieren.

Als der geduldig die Fotowünsche seiner Fans abarbeitet, ist Warnock längst weitergezogen. In einem Senatswahlkampf jagt ein Termin den nächsten. Und angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse zählt nicht nur sprichwörtlich jede Stimme.

Die Rekord-Wahlbeteiligung hat viel mit einer Frau zu tun

Eine, die bei knappen Wahlergebnissen mitreden kann, ist Angelika Kausche. Mit 318 Stimmen hat die Abgeordnete im Landesparlament von Georgia vor zwei Jahren erstmals einen Sitz gewonnen, den sie gerade verteidigt hat. Sie selbst, erzählt die Deutschamerikanerin am Telefon, sei durch Jon Ossoff in die Politik gekommen. „2017 habe ich für ihn Wahlkampf gemacht, als er für das Repräsentantenhaus kandidierte. Für ihn habe ich ihn an tausende von Türen geklopft und Wähler mobilisiert.“

Eine Wählermobilisierung, die in Corona-Zeiten kaum noch möglich ist. Daher fürchtet Kausche, dass die Wahlbeteiligung am 5. Januar deutlich geringer ausfallen wird, als viele es sich wünschen – und dass das den Demokraten schaden könnte. „Vielleicht werden zwei Millionen Wähler abstimmen. Zweieinhalb Millionen wären die Hälfte vom 3. November, das wäre viel für eine Stichwahl“, sagt sie. Eine geringere Wahlbeteiligung, so lautet normalerweise die Regel in Georgia, nutzt eher den Republikanern. Aber was ist schon normal in diesen Zeiten?

Dass es in diesem Jahr in Georgia überhaupt zu einer Rekord-Wahlbeteiligung kommen konnte, und damit zu Bidens Sieg, hat viel mit Stacey Abrams zu tun. Die Afroamerikanerin, die 2018 nur hauchdünn im Gouverneurs-Rennen gegen Brian Kemp unterlag, hat mit „New Georgia Project“ und „Fair Fight“ zwei Organisationen gegründet, die viele neue Wähler registrieren und dazu motivieren, auch tatsächlich abzustimmen. In diesem Jahr ist es so gelungen, 800.000 neue Wähler zu registrieren.

Frank Wilson, derzeitiger Vorstandsvorsitzender des „New Georgia Project“, glaubt nicht, dass es den Wählern in Georgia an Motivation fehlen könnte. Im Interview, das wegen Corona telefonisch geführt werden muss, sagt er: „Die Auswirkungen der vergangenen vier Jahre motivieren immer noch genug. Trumps Einfluss auf die beiden derzeitigen Senatoren ist so groß, dass das Wähler dazu bringen wird, rauszugehen und abzustimmen.“

Zwar glaubt auch Wilson nicht, dass die Wahlbeteiligung im Januar an die vom November heranreichen wird. Aber: „Sie wird höher als bei einer normalen Stichwahl sein.“

Unterstützer der republikanischen Senatoren Kelly Loeffler und David Purdue bei einer Wahlkampfveranstaltung
Unterstützer der republikanischen Senatoren Kelly Loeffler und David Purdue bei einer Wahlkampfveranstaltung

© Jessica McGowan/Getty Images/AFP

„New Georgia Project“ registriert nicht nur Wähler, sondern ermuntert sie auch und hilft ihnen ganz praktisch dabei, wählen zu gehen. Bei ihrer Arbeit konzentrieren sie sich die Aktivisten stark auf afroamerikanische Gemeinden. „Diese hatten traditionell die geringste Wahlbeteiligung“, sagt Wilson. Oft gebe es dort keinerlei öffentliche Verkehrsmittel, sodass vielen der Aufwand zu groß sei, sich zu den Wahllokalen zu bewegen – selbst wenn sie sich als Wähler registriert haben.

„Daher haben wir nicht nur Rallyes abgehalten und an Türen geklopft, sondern auch Fahrten organisiert, beispielsweise über Kirchengemeinden“, erzählt Wilson. Deswegen, und weil viele sich wieder nach „Normalität“ im Weißen Haus sehnten, habe Georgia eine historisch hohe Wahlbeteiligung gesehen.

Aber reicht das bis in den Januar – und womöglich auch noch länger? Ist Georgia tatsächlich auf dem Weg, von einem „roten“ zu einem „blauen Staat“ zu werden, also zu einem mit einer stabilen demokratischen Mehrheit, wie es viele US-Medien nun schreiben?

„Sagen wir: Georgia ist ein violetter Staat“, sagt Angelika Kausche. Sie ist etwas skeptisch, auch wenn sie bestätigt, dass sich Mehrheiten verschoben haben, unter anderem wegen des Zuzugs aus anderen, liberaleren Teilen des Landes in das ökonomische Kraftzentrum rund um Atlanta.

Aber die Hoffnungen, dass sich die blaue Wende zugunsten Bidens auch voll auf die gleichzeitig stattfindenden Wahlen für das Landesparlament auswirkt, hätten sich so nicht erfüllt. „Da waren wir wohl ein bisschen zu optimistisch“, sagt sie. „Wir hatten mit acht bis zehn neuen Sitzen gerechnet und auf bis zu 16 zusätzliche gehofft. Das wäre die Mehrheit gewesen. Geholt haben wir nur zwei.“

Das Wahlrecht wird reformiert – das könnte den Republikanern nutzen

Dazu kommt, dass im nächsten Jahr nach dem Zensus die Wahlkreisgrenzen neu gezogen werden, und zwar von der Partei, die die Macht auf bundesstaatlicher Ebene hat. Das sind in Georgia die Republikaner. „Die werden die neuen Grenzen so ziehen, dass sie in den kommenden zehn Jahren, also bis zur nächsten Volkszählung, an der Macht blieben“, sagt Kausche.

Sie selbst fürchtet, dass sie ihren 2018 überraschend gewonnenen Wahlkreis bald verlieren könnte. „Wir werden 2022 wohl Sitze abgeben. Viele unterschätzen, welche Bedeutung Wahlen auf dieser Ebene haben. Hier werden Weichen gestellt, die große Konsequenzen haben.“ So sei es gut möglich, dass die Republikaner bei einer baldigen Wahlrechtsreform die Möglichkeit zur Briefwahl wieder einschränkten, von der die Demokraten in Pandemie-Zeiten so profitierten.

Der extreme Zuwachs bei den Briefwahlstimmen ist eines der Themen, das Trump und seine Leute benutzen, um den Ausgang der Wahl in Zweifel zu ziehen. Denn das könne ja nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, behaupten sie. Dass dies verfängt, zeigen die Demonstranten, die derzeit täglich vor dem Kapitol in Atlanta protestieren.

„Joe Biden hat doch noch nicht einmal Wahlkampf gemacht. Wie soll er denn da Georgia gewonnen haben?“, sagt eine ältere Frau aus Atlanta, die ihren Namen nicht nennen will. „Das hier war schon immer ein republikanischer Staat. Wem das nicht passt, der kann ja gehen.“

Mit ein paar Dutzend anderen demonstriert sie am Donnerstag dagegen, dass Brad Raffensperger, der „Secretary of State“ von Georgia, so etwas wie der Innenminister des Staates, das Ergebnis der Neuauszählung bekannt gibt. Raffensperger, selbst ein Republikaner, wird kurze Zeit später Bidens Sieg in Georgia bestätigen – obwohl ihn seine eigene Partei deswegen scharf kritisiert und gar zum Rücktritt auffordert.

„Da ist im großen Stil betrogen worden“, ist die Frau vor dem Kapitol überzeugt. Der Mann neben ihr nickt, er sieht das genauso. Kent Dowden ist extra aus Texas angereist, mit Trump-Kappe und US-Flagge ausgerüstet: „Wir müssen unsere Freiheit verteidigen, sonst verlieren wir sie. Wir lassen uns die Wahl nicht stehlen, Betrug darf unsere Politik nicht beeinflussen“, sagt der 64-Jährige.

Der Gegner ist für die Trump-Fans – ob vor dem Kapitol oder bei den Events der Kandidaten – keiner, der gewinnen darf. Die Demokraten wollten Sozialismus und Kommunismus einführen, hört man immer wieder, das dürfe in Amerika nie geschehen. Von der Versöhnung, die Joe Biden im Wahlkampf versprochen hat, will hier keiner etwas wissen.

Zu früh für Versöhnung?

Die Demokraten werben trotzdem weiter damit, dass sie das Land einen wollen. Dabei legen sie auch viel Wert darauf, sich von den Republikanern zu unterscheiden.

Als Warnock bei der gemeinsamen Rallye mit Ossoff am Donnerstagabend sagt, dass manchmal Politiker nicht hören wollten, was ihnen die Menschen bei Wahlen zu sagen hätten, rufen ein paar vereinzelte Zuhörer „Lock them up“, sperrt sie ein, wie es die Trump-Fans bei dessen Rallyes so häufig mit Blick auf den politischen Gegner skandieren. Warnock unterbindet das rasch. „Wir werden nicht wie das werden, was wir ablehnen“, sagt er. Die Rufe verstummen.

Vielleicht ist es einfach noch zu früh für Versöhnung. Denn noch konzentrieren sich alle auf Georgia. Da geht es um so viel, dass die Emotionen hochkochen.

Die Republikaner tun wenig, dass sich das ändert. Kaum einer widerspricht öffentlich den wilden Thesen Trumps. Sie wollen, dass die Wut ihre Wähler an die Urnen treibt – und die Angst vor einem Linksruck. So sagt Senator Rubio bei seinem Auftritt im Senats-Wahlkampf: „Das hier ist der Showdowns aller Showdowns. Es ist an Georgia, diese Entscheidung zu treffen. Aber es wird Amerika sein, das die Konsequenzen zu tragen hat.“

Allerdings schwächt die Weigerung, Biden als den legitimen Wahlsieger anzuerkennen, auch eines der wichtigsten Argumente der Wahlkämpfer Loeffler und Perdue: Denn sie können ja nur dann „die letzte Verteidigungslinie“ sein, wenn alle anderen vorher gefallen sind.

Kelly Loeffler wird ihre Wahlkampf-Aktivitäten nach dem Auftritt am Freitag vorerst etwas einschränken müssen. Die Senatorin habe sich nach einer möglichen Corona-Infektion isoliert, teilt ihr Wahlkampfteam am Samstag mit. In Georgia ist derzeit nichts normal.

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