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Martina Blankenfeld auf dem Balkon ihrer Wohnung.

© Georg Fischer/dpa

Gefangen im DDR-Krankenhaus: Weil sie sich nicht unterordnen wollte

Es ist 40 Jahre her, doch Martina Blankenfeld erinnert sich noch gut an ihre Angst und ihre Wut in einem DDR-Krankenhausgefängnis in Berlin.

Von Andreas Austilat

Es war das zweite Fenster im Obergeschoss, da ist sich Martina Blankenfeld auch nach gut 40 Jahren noch sicher. Gegen Mittag stößt die damals 15-Jährige im Mai 1978 die Scheibe mit einem Besenstiel ein. Weil sie frische Luft will, einen Blick nach draußen. Diesen Blick erzwingt sie mit Gewalt, denn die Fenster in ihrem Zimmer sind nicht nur vergittert, sondern aus dickem Drahtglas, das zwar Licht hereinlässt – mehr aber nicht.

Acht Tage schon ist sie zu dem Zeitpunkt eingesperrt. Ohne, dass ein Gericht sie verurteilt hat, ihr überhaupt eine Straftat vorgeworfen wird. Martina Blankenfeld ist auf der geschlossenen venerologischen Station im Krankenhaus Buch, damals Ost-Berlin. Es ist eine Station für Mädchen, die an einer Geschlechtskrankheit leiden – angeblich. Martina Blankenfeld ist gesund. Was ihr und vielen anderen widerfahren ist, haben zwei Wissenschaftler Jahrzehnte später erforscht: Sie gaben ihrer Studie den vielsagenden Titel „Disziplinierung durch Medizin“.

Seit drei Jahren ist der Komplex an der Wiltbergstraße in Berlin-Buch eine Wohnanlage, Teil des sanierten Ludwig-Hoffmann-Quartiers. Früher stand hier eine Krankenhausstadt, nach Plänen des Berliner Stadtbaurats Hoffmann zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet.

Die langen Flure, die früher von der Treppe abgingen, sind verschwunden, der neue Putz des Hauses strahlt. Aber Martina Blankenfeld, schwarze lange Haare mit einer grauen Strähne in der Stirn, erkennt den Terrazzoboden wieder, die Steinstufen, die runden Bögen über den Türen. Sie nimmt das nüchtern zur Kenntnis, mit beinahe archäologischem Interesse.

1978 verwehrt ein Stahlgitter quer über den Flur den Zugang zur Station 114 C. Nach damals geltendem DDR-Recht werden junge Frauen, auch Mädchen hier nur zwangsweise eingewiesen, wenn sie sich der Untersuchung auf eine Geschlechtskrankheit entziehen. Tripperburg werden Stationen wie diese genannt. Doch die 15-Jährige hat sich keiner Untersuchung entzogen, es ist auch keine angeordnet gewesen.

Erinnerung an hilflose Wut

Martina hat keinen Tripper. Auch keine Syphilis. Sie wird hier trotzdem gynäkologisch untersucht, beinahe täglich, und das drei Wochen lang. Sie nimmt es hin, es bleibt ihr auch nichts anderes übrig. Verweigert sie, würde das ihren Aufenthalt nur verlängern, wird ihr erklärt. Sie erinnert sich an eine schmerzhafte Gewebeentnahme, an die hilflose Wut, an die Angst, alles könnte noch schlimmer kommen, „dass die mich vielleicht in die Klapse sperren". Station 114 C war kein Gefängnis, aber die Bedingungen sind ähnlich: Bei der Aufnahme werden ihr die Kleidung und alle persönlichen Gegenstände weggenommen, Hofgang gibt es nicht, die Betten sind am Boden festgeschraubt, Lampen mit Drahtkörben gesichert, Langeweile, Isolation.

Martina Blankenfeld als Jugendliche.
Martina Blankenfeld als Jugendliche.

© Andreas Austilat

Der Grund der Untersuchungen bleibt ihr ebenso rätselhaft wie der Sinn der kleinen Experimente, die man an ihr durchführt. Es sind Kosmetika, die auf ihre Hautverträglichkeit getestet werden, eine Spezialität des amtierenden Chefarztes Günter Elste, Koryphäe auf seinem Gebiet. Elste vertritt die DDR auch bei der WHO, der Weltgesundheitsorganisation. Noch heute weist die in immer neuen Auflagen verbreitete Geschichte der Bucher Kliniken auf Elstes Verdienste hin. Die geschlossene venerologische Station wird im Buch nicht erwähnt.

Auch 30 Jahre nach dem Ende der DDR gibt es immer noch Opfer dieses Staates, die um ihr Recht kämpfen müssen. Doch das wird komplizierter, verschwundene Unterlagen sind inzwischen schwer zu beschaffen. Dabei drängt die Zeit, denn es läuft eine Frist. Menschen, denen wie Martina Blankenfeld Unrecht angetan wurde, und die bisher keinen Antrag auf Rehabilitierung und auch auf Entschädigung gestellt haben, müssen sich beeilen: Nach geltendem Recht können sie das nur noch bis zum 31.12.2019 tun. Immerhin, der Entwurf zur Neufassung dieses Gesetzes ist fertig, wird am 28. Juni in erster Lesung im Bundestag beraten.

Sechs "Tripperburgen" sind nachgewiesen

Martina hätte 1978 durchaus der Hilfe bedurft. Das Mädchen hat einen Suizidversuch hinter sich. Aber das interessiert auf der Station 114 C niemanden. Der Patientin Blankenfeld wirft man Bummelei vor, fragwürdigen Umgang, Männerbekanntschaften. Sie steht unter dem Verdacht, eine HWG-Person zu sein, HWG bedeutet „häufig wechselnder Geschlechtsverkehr“. Das reicht für eine Einweisung.

Wie viele Fälle wie Martina Blankenfeld es in der DDR gab, ist schwer zu sagen. Florian Steger, heute Professor für Ethik in der Medizin an der Universität Ulm, und sein Kollege Maximilian Schochow können in ihrer Studie lediglich Zahlen für das Jahr 1968 vorweisen. Damals wurden 2763 Frauen und Mädchen wegen des Verdachts einer Geschlechtskrankheit in einer der ostdeutschen Tripperburgen festgehalten. Nur bei 28 Prozent von ihnen wurden tatsächlich Gonorrhoe oder Syphilis diagnostiziert.

Sechs solcher Einrichtungen sind nachgewiesen: in Berlin-Buch, Halle, Dresden, Leipzig, Rostock und Chemnitz, dem damaligen Karl-Marx-Stadt. Die Forschungsarbeit der beiden Mediziner wurde von Beginn an von Birgit Neumann-Becker, der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Sachsen-Anhalt, unterstützt. Inzwischen wurde vor der ehemaligen geschlossenen Station in Halle ein Gedenkstein aufgestellt, auf dem eine Tafel an die menschenunwürdige Behandlung derer erinnert, die hier festgehalten wurden.

In Berlin-Buch sucht man einen Gedenkort bislang vergeblich. Dem Leiter des Pankower Heimatmuseums ist die Existenz einer solchen Station in seinem Bezirk bisher auch nicht bekannt gewesen, er höre zum ersten Mal davon, sagt er auf Anfrage. Aber seit März liegt eine Bitte zur Prüfung des Sachverhalts aus dem Büro des Bezirksbürgermeisters vor.

Untersuchungen auf grobe Art und Weise

In Halle meldeten sich eine Reihe von betroffenen Frauen, einige von ihnen stellten seinerzeit beim zuständigen Landgericht einen Antrag auf Rehabilitierung und Entschädigung. Sie wurden zunächst abgewiesen, wie sich Birgit Neumann-Becker erinnert.

Unstrittig war, dass Untersuchungen auf grobe Art und Weise durchgeführt wurden. In Halle berichteten Zeuginnen über ihre Angst, wenn ihnen die Haare abgeschnitten und die Kleider weggenommen wurden, über Schmerzen bei der täglichen Untersuchung, über Beschimpfungen als „Dreck“ und „Abschaum“. „Wer nicht spurte“, sagte ein Frau, „der kriegte eine Spritze, die nannten das Bomben“. Injiziert wurden dabei fieberauslösende Mittel, mit denen Erreger nachgewiesen werden sollten. Das Mittel war Therapie und Strafe gleichzeitig, urteilen Steger und Schochow in ihrer zweiten Studie. Ihr Titel „Traumatisierung durch politisierte Medizin“.

Unstrittig war auch, dass es sich um Freiheitsberaubung handelte, die Mädchen wurden oft für drei bis vier Wochen auf der Station festgehalten, auch das medizinisch unangemessen, denn ob etwa ein Tripper vorliegt, ist schnell nachweisbar. Entscheidend für einen Anspruch auf Rehabilitierung, gar auf Entschädigung, ist aber, dass die Maßnahme nicht im Einklang mit damals geltendem Recht war.

Dennoch macht die Aussicht, die Neufassung des Gesetzes zur Bereinigung von DDR-Unrecht könnte noch scheitern, Birgit Neumann-Becker nervös. Nach ihrer Einschätzung gibt es dringenden Änderungsbedarf. Das Gesetz entspreche nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand. Ganze Opfergruppen seien gar nicht erfasst. Jugendliche zum Beispiel, deren Schulkarriere durch Repression unterbrochen beziehungsweise beendet wurde – da konnte es schon reichen, sich einer Wehrkundeübung zu entziehen. Oder jene, die von Zersetzungskampagnen der Stasi betroffen waren, die mit konstruierten Vorwürfen zu kämpfen hatten, einmal diskreditiert ihre Arbeit verloren, ihre Freunde, ihren Ehepartner. Bis heute leiden manche unter den Folgen. Auch eine Dynamisierung der Opferrenten, die bislang auf 300 Euro festgeschrieben sind, sei anzustreben, im bisherigen Entwurf aber nicht enthalten.

Sie bleibt aufmüpfig und wird bestraft

Martina Blankenfeld hat ihren Antrag auf Rehabilitierung und gegebenenfalls Entschädigung bereits im November 2017 beim dafür zuständigen Landgericht Berlin gestellt – gleich in dreifacher Ausfertigung. Denn mit ihrer Zwangseinweisung in Berlin-Buch war der Versuch der DDR-Jugendfürsorge, aus ihr doch noch eine sozialistische Persönlichkeit zu formen, keineswegs beendet.

Aus der Tripperburg in Buch wurde sie nach drei Wochen direkt in das Durchgangsheim Alt-Stralau gebracht. Martina Blankenfeld bleibt aufmüpfig und wird bestraft. Sie will einen Toilettengang erzwingen und kommt dafür in Einzelhaft, drei Tage lang. „Da fragt man sich, was habe ich verbrochen?“, sagt sie heute. Wieder das Gefühl der Ohnmacht, aber ihre Wut muss sie unterdrücken. Noch zwei Mal landet sie in Einzelzellen. Von Alt-Stralau kommt sie in den Jugendwerkhof nach Burg bei Magdeburg, besser wird es nicht.

Protokoll der Aufnahme im Durchgangsheim Alt-Stralau.
Protokoll der Aufnahme im Durchgangsheim Alt-Stralau.

© Andreas Austilat

Im März 2019 übersandte ihr das Berliner Landgericht drei Fragebögen, in denen Martina Blankenfeld in 14 Punkten Stellung nehmen soll. Es sind Fragen nach dem Grund der Einweisung, nach der Unterbringung, der Verpflegung und dem Tagesablauf, nach Strafen und Übergriffen oder ob dem Jugendlichen statt eines Namens eine Nummer zugeteilt wurde. Birgit Neumann-Becker sagt, das sei das übliche Verfahren, es müsse geklärt werden, ob es sich im individuellen Fall um Unrecht handelte.

Im Fall der Bucher Klinik gab es lange nur die Zeugenaussagen der Betroffenen. Mitarbeiter sind nicht mehr ausfindig zu machen oder können sich nicht erinnern. Dieter Leukert, ein Architekt im Ruhestand, der seit Langem Führungen über das Gelände anbietet, verweist auf das Buch von Arno Kalinich zur Geschichte der Krankenhausstadt und darauf, dass der von ihm befragte Autor die Existenz einer Sonderabteilung bestreitet. Doch Martina Blankenfeld hat längst Recherchen in eigener Sache aufgenommen.

Kindheit in schwierigen Verhältnissen

Sie ist der Typ, der sich wehrt. Sie hat das früher getan, als sie mit dem Besen die Scheibe einschlug. Sie tut das heute und kann hartnäckig sein. Bis heute ist es Martina Blankenfeld zwar nicht gelungen, ihre Patientenakte aus Buch ausfindig zu machen. Auch sind einige Akten, insbesondere die der Volkspolizei, im Landesarchiv immer noch unter Verschluss, unterliegen dort einer Schutzfrist. Sie hat Anträge auf Verkürzung dieser Frist gestellt, darüber hinaus bereits eine Reihe von Akten ausfindig machen können.

Als Mädchen wächst sie in schwierigen Verhältnissen auf. Die Eltern trennen sich früh, ein Stiefvater missbraucht sie, da ist sie noch Kind. Die Mutter ist immer wieder lungenkrank, wird stationär behandelt. Das heißt, die Diagnose bleibt häufig unklar, heute würde man vielleicht auf eine psychosomatische Erkrankung schließen. Martina Blankenfeld fahndet auch nach diesen Akten. Mit 14 weckt sie den Argwohn der Behörden. „Seit Wochen bummelt sie die Schule“, heißt es in einer „vorläufigen Verfügung“ der Lichtenberger Jugendhilfe von 1978, die 15-Jährige „verbringt die Nächte außerhalb des mütterlichen Haushaltes“, steht „in enger Verbindung zu einer negativen Freizeitgruppe.“

In der achten Klasse erhielt Martina Blankenfeld dieses Zeugnis.
In der achten Klasse erhielt Martina Blankenfeld dieses Zeugnis.

© Andreas Austilat

Zur negativen Freizeitgruppe gehören Jugendliche, die am 7. Oktober 1977 an den Auseinandersetzungen auf dem Alexanderplatz beteiligt sind. Dort soll der Geburtstag der DDR gefeiert werden, tatsächlich kommt es zur Kollision zwischen Polizisten und Jugendlichen, wie man sie in dieser erbitterten Härte in Ost-Berlin seit 1953 nicht mehr gesehen hat. Es fliegen Steine und Flaschen, es werden Rufe wie „nieder mit der DDR“, „nieder mit der Honecker-Bande“ skandiert.

Die Jugendhilfe unterstellt Martina, sie könnte ihrer Mutter schaden. Das Mädchen hingegen ist mit den häuslichen Bedingungen derart überfordert, dass sie versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen und im Kinderkrankenhaus Lichtenberg landet. Auch jetzt ist es nicht das Bestreben, ihr zu helfen, sie kommt stattdessen auf die geschlossene venerologische Station in Buch.

Sie bringt ihre Geschichte auf die Bühne

Die Beschuldigung der „Bummelei“ und des häufig wechselnden Geschlechtsverkehrs sollte Martina Blankenfeld ihr ganzes DDR-Leben hindurch begleiten. Einmal versucht die Stasi sogar, sie zu überreden, sich zu prostituieren. Sie soll gezielt auf von der Stasi ausgesuchte Opfer angesetzt werden. Das gelingt den Behörden nicht. Und sie scheitern bei dem Versuch, sie für ein bürgerliches Leben im Sinne der sozialistischen Gesellschaft zu gewinnen. Folgerichtig stellt sie im Oktober 1989 einen Ausreiseantrag mit der Begründung, in diesem Staat keine Chance mehr zu erhalten. Doch bevor über den Antrag entschieden werden kann, geht die DDR selbst unter.

Auch im Westen kommt sie nie richtig an. Martina Blankenfeld hat sich ihr ausgeprägtes, in jungen Jahren erlerntes Misstrauen gegenüber, wie sie es nennt, Hierarchien und Machtstrukturen bewahrt. Sie eckt schnell an, bei Arbeitgebern, Vermietern, die Beziehung zum Vater ihres einzigen Kindes geht in die Brüche, der Junge stirbt mit 29 an Krebs. Aber sie hat einen eigenen Weg gefunden, sich zu rehabilitieren, ganz gleich wie die Entscheidung des Landgerichts ausfällt. Sie bringt ihre Geschichte auf die Bühne.

Die von ihr aufgefundenen Akten werden zum Gegenstand einer szenischen Lesung, aufgeführt von Berliner Studentinnen am 27., 28. und 29. Juni im Rathaus Pankow. „Es geht dabei nicht so sehr um mich“, sagt sie, „es geht darum, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass man sein Schicksal nicht einfach hinnehmen muss.“

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