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Streit über Militarismus oder Patriotismus in Berlin-Kreuzberg: Dürfen Straßen noch nach preußischen Generälen heißen?

Die Umbenennungs-Debatte in Deutschland geht weiter: Die Grünen wollen Schlachtfelder und Generäle aus Straßennamen in Berlin-Kreuzberg verbannen.

Lasst uns den öffentlichen Raum entmilitarisieren!, schlugen vor einem Jahr die Grünen des Berliner Bezirks Friedrichshain- Kreuzberg vor. Wäre es nicht schön, wenn alle nach Generälen und Schlachten benannten Straßen und Plätze künftig zeitgemäßere, vor allem friedfertigere Namen bekämen? Etwa die von Frauen.

Der Grüne Werner Heck zählte die Umbenennungs-Kandidaten zusammen. Er kam anfangs auf zwölf. Zwölf falsche Apostel? Yorckstraße, Blücherstraße, Blücherplatz, Hornstraße, Möckernstraße, Gneisenaustraße, Katzbachstraße, Hagelberger Straße, Großbeerenstraße, Eylauer Straße, Obentrautstraße, Großgörschenstraße – welche zwar bereits zu Schöneberg zählt, stadtplanerisch aber ebenso unhaltbar schien: Generäle und Schlachtfelder.

Timur Husein, CDU-Mann und Muslim, las den Antrag und schloss die Augen. Manchmal verstehe er diese Nation nicht, seine Nation, sagt er. In jedem anderen Land würde man die Befreiungskriege feiern, bei uns will man noch das Letzte tilgen, was daran erinnert. Diese Generäle seien verdiente Patrioten, die Namen müssen bleiben, erklärte er im Namen seiner Partei und seines Gewissens.

Ludwig Yorck von Wartenburg war ein preußischer General, die kreuzende Großbeerenstraße ist nach einem Schlachtfeld benannt.
Ludwig Yorck von Wartenburg war ein preußischer General, die kreuzende Großbeerenstraße ist nach einem Schlachtfeld benannt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Huseins Vater ist Nordmazedonier türkischer Abstimmung, Muslim, seine Mutter katholische Kroatin. Was, haben sich schon manche gefragt, geht ihn die deutsche, die preußische Geschichte an?

Husein steht ganz oben auf einem Gipfel Berlins, dem Kreuzberg, 66 Meter über dem Meeresspiegel, am Denkmal für die Befreiungskriege. Es ist von Schinkel – also nicht unmittelbar gefährdet. „Ich war oft hier als Junge“, sagt er, den in der Frage gelegenen Misstrauensantrag höflich überhörend. Der Herbstwind fährt in Huseins dunklen Mantel, als sei es der Mantel der Geschichte.

In Friedrichhain-Kreuzberg wissen sie, dass Timur Husein eine ernstzunehmende Stimme ist, er hat erst unlängst einen Streichelzoo gerettet, den unterhalb des Denkmals. Im schmalen Gesicht des 40-Jährigen liegen sowohl Sanftheit als auch Entschlossenheit, im Augenblick überwiegt die Sanftheit. Wie er diesen Ausblick kennt! Die ganze anstößige Topografie, auch der Generalszug genannt, liegt ihm zu Füßen, es ist die Welt seiner Kindheit. Er erkennt seine alte Straße, nach einem General benannt. Wenn er zur Schule ging, bog er ein in eine, die nach einem noch bekannteren General heißt.

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Ihm klingt es heimatlich. Das geht nicht allen Kreuzbergern so. Den grünen Kultur-Mann Werner Heck erreichten immer wieder Protestnoten von Anwohnern gegen die Zumutung, in einer Straße wohnen zu müssen, die den Namen eines preußischen Oberkommandierenden trägt. „Natürlich hat Kreuzberg eine starke militärische Tradition, schon durch die Nähe zum Tempelhofer Feld, dem großen Exerzierplatz“, erklärt Heck. Aber jetzt besitze es eher eine gegenkulturelle Tradition.

Es ist auch die seine, die des Literaturwissenschaftlers, Dramaturgen, Schauspielers, Grünen Werner Heck. In Friedrichshain-Kreuzberg ist die Skepsis gegen alles Militärische so weit fortgeschritten, dass er als einziger Bezirk zunächst keine Corona-Hilfe der Bundeswehr zulassen wollte, obwohl die Infektionszahlen hier Spitzenwerte erreichen. Heck bleibt lieber zu Hause, er ist stark erkältet. Auf seinem blauen Hemd laufen Raubkatzen an goldenen Ketten. Ein konfektionelles Bekenntnis? Löwen aller Länder, Ihr habt nichts zu verlieren als Eure Ketten?

In Frankreich würde man eine solche Debatte niemals führen, sagt CDU-Mann Timur Husein.
In Frankreich würde man eine solche Debatte niemals führen, sagt CDU-Mann Timur Husein.

© Kitty Kleist-Heinrich

Ein Aktivist, der nicht eher ruhen wird, bis die letzte Kreuzberger Straße einen neuen Namen hat, ist er nicht. „Ich habe keinen Antrag auf Umbenennung der Straßen und Plätze gestellt, sondern den auf Einberufung eines öffentlichen Diskurs- und Beteiligungsprozesses.“ Das ist dem Gewohnheits-Ostberliner aus der Nähe von Aachen sehr wichtig.

Nach 1990 bekamen in seiner Stadthälfte viele Straßen über Nacht neue Namen. Ernst-Thälmann-Straße? Otto-Grotewohl-Straße? Wilhelm-Pieck-Straße? Heck glaubt nicht, dass die Ostler sehr an den Kommunisten auf ihren Straßenschildern hingen, aber die Art, wie sie verschwanden, so plötzlich, so über ihre Köpfe hinweg wie sie einst gekommen waren, habe ihnen doch missfallen.

Wer war Yorck? 49 von 50 hatten keine Ahnung

Wahrscheinlich wissen die meisten Kreuzberger bis heute nicht, nach welchen Leuten und Orten ihre Straßen heißen. Muss ein Türke wissen, wer Ludwig Yorck von Wartenburg war oder August Neidhardt von Gneisenau und warum die Großbeerenstraße Großbeerenstraße heißt? Heck hat sich mal an eine Ampel an der Yorckstraße gestellt und Passanten gefragt, 100 sollten es sein: Wer war Yorck? 50 bekundeten, keine Zeit zu haben. 49 hatten keine Ahnung. Einer wusste es.

Und er, Timur Husein, wusste er denn als Kind, was das für ein Denkmal war auf dem Kreuzberg? Aber natürlich, sagt Husein. Jedes Mal, wenn sie hier oben standen, habe sein Vater ihm erklärt, wie die Deutschen 1813 gegen die napoleonische Fremdherrschaft gekämpft haben.

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Natürlich machten das nicht alle türkische Väter mit ihren Söhnen, aber der seine war nicht wie alle, er war Student der Germanistik und Geschichte in Mazedonien gewesen, gehörte zur türkischen Minderheit dort. Das Leben des Geschichts- und Deutschstudenten Kenan Husein nahm genau an dem Tag eine dramatische Wendung, als er beschloss, als Gastarbeiter nach Deutschland zu fahren, um schon bald im eigenen Auto zurückzukehren. Doch dann traf er in einem Café am Alexanderplatz eine schöne katholische Kroatin – und blieb.

Es liegt ein Ton von Mitleid darin, wenn Timur Husein sagt, dass für viele Ursprungsdeutsche, die er kenne, die Geschichte der eigenen Nation mit dem Ersten Weltkrieg anfange. Und dann, wüssten sie, sei es noch schlimmer gekommen. Dabei waren die Befreiungskriege 1813 gewissermaßen die Urszene der deutschen Nation. Die Erfindung des deutschen Bürgers über Kleinstaaten-Grenzen hinweg.

Berlins Mohrenstraße ist inzwischen nach dem schwarzen Philosophen Anton Wilhelm Amo umbenannt.
Berlins Mohrenstraße ist inzwischen nach dem schwarzen Philosophen Anton Wilhelm Amo umbenannt.

© Gerald Matzka/dpa-Zentralbild

Ohne die Befreiungskriege keine deutsche Nation, überlegt Husein, im Wind stehend wie Hans David Ludwig Graf Yorck von Wartenburg im Dezember 1812 bei Tauroggen, Ostpreußen. Yorck glaubte, der König irrte, was Freund und Feind betraf. Also definierte er Freund und Feind neu. Statt für die Franzosen und gegen die Russen zu kämpfen, ließ er Letztere bei Tauroggen gegen jeden Befehl ungehindert preußisches Territorium passieren. Von wegen preußischer Kadavergehorsam! Eigentlich müsste sogar Linken und Grünen ein Befehlsverweigerer wie Yorck sympathisch sein – wenn sie etwas über ihn wüssten, sagt Timur Husein kühl.

Es klingt fast etwas Arroganz darin. Husein hat am Kreuzberger Leibniz-Gymnasium Abitur gemacht. Das war ziemlich links. Pünktlichkeit galt als spießig. „Die deutschen Akademikerkinder haben ihre Zeugnisse verbrannt, waren gegen Zensuren. Sie waren im Grunde auch gegen das Gymnasium“, erklärt er, „letztlich waren sie auch gegen Leistung“. Er dagegen war stolz, aufs Gymnasium zu gehen. Schon damals habe er gemerkt, dass er nicht zu den meisten gehört. Also den Linken.

„Was willst du denn in der CDU?“

Der Linksfraktion innerhalb der eigenen Familie, seiner Mutter, hat er erklärt, dass die Linke ein Irrtum ist. Und dass sie ab sofort einen konservativen Sohn habe. Was willst du denn in der CDU?, hat sie noch gefragt. Husein hat sich für die Religion seines Vaters entschieden. „Obwohl ich immer den evangelischen Religionsunterricht besucht habe“, fügt Husein an. Jesus am Kreuz, siebte Stunde. Alle gingen nach Hause, er blieb. Er könne glauben, was er wolle, habe seine Mutter gesagt, doch wenn er Europa begreifen wolle, die europäische Geschichte, müsse er das Christentum kennen.

Immer wieder kommen Junge und Ältere oben auf dem Kreuzberg an, die meisten leicht außer Atem, oft allein, auch zu zweit, höchstens zu dritt, und schauen abwechselnd in den Himmel über Berlin und die Stadt untendrunter. Jogger machen am Gitter Dehnübungen.

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Schinkels Denkmal ist ein gotischer Turmhelm mit lauter allegorischen Helden in den Nischen. Darunter Orte und Daten. In einer Nische steht eine ausgetrunkene Flasche „Golden Gate“, Zinfandel. Husein sieht es mit Missbilligung. Auch zwei junge Französinnen betrachten das Denkmal. Sie scheinen gar nicht befremdet.

Dabei war das das Hauptargument der Grünen: „Mehr als zweihundert Jahre nach diesen Kriegen, 150 Jahre nach der Benennung nach Akteuren und Schlachten stellt sich vor dem Hintergrund der europäischen Einigung und insbesondere der im Rahmen dieses friedensstiftenden Prozesses entstandenen tiefen Partnerschaft zwischen den ehemaligen 'Erbfeinden' die Frage, ob ...“, formulierte Antragsteller Heck.

Husein versteht nicht, wie man so denken kann. Als ob diese Straßennamen etwas davon zurücknehmen würden. Als ob es antifranzösische Stellungnahmen wären. Ein Land wie Frankreich, das rege Beziehungen zu seiner eigenen Vergangenheit unterhält, käme kaum auf die Idee, es so sehen. Und dass die Unterwerfung des halben Erdteils mit dem Widerspruch der Unterworfenen rechnen musste, ahnte wohl selbst Napoleon.

Dass er auch noch finanzielle Entschädigung forderte für die Mühe, Preußen zu besiegen, schuf ihm keine Sympathien. Wobei Beihilfe zur Gründung des deutschen Nationalstaats nicht in seiner Absicht lag. Aber das ist Geschichte!, frohlockt Husein. Er mag Ambivalenzen. Er liegt damit nicht im Trend der Zeit.

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Denken Sie an die Stein-Hardenbergschen Reformen! An die Befreiung der Bauern, der Juden! Huseins Gesicht beginnt zu leuchten. Ist es das Glück der Erkenntnis? Erst nach der Niederlage gegen Napoleon hatten die Reformkräfte im Land mit ihren urfranzösischen Citoyen-Ideen wirklich eine Chance: Wir brauchen Bürger, keine Untertanen! Das alles kulminierte in den Freiheitskriegen.

Huseins Blick fixiert das Eiserne Kreuz an der Spitze des Denkmals. Eigentlich müssten die Grünen auch den Stadtteil umbenennen. Denn von dem Kreuz da oben hat er seinen Namen. Vielleicht Roter Sternberg statt Kreuzberg? „Das Eiserne Kreuz wurde auch an Bürgerliche verliehen“, kommentiert Husein.

Sein Mantel ist wohl doch nicht der der Geschichte, er lässt den kalten Herbstwind durch. Husein schlägt Umzug in sein Lieblingscafé „Lentz“ vor, Ecke Yorck-, Großbeerenstraße. Hier treffen sich also der General und der kleine brandenburgische Ort, an dem die Franzosen am 23. August 1813 den Alliierten unterlagen. Nun war der Weg nach Berlin für Napoleon versperrt, die französische Fremdherrschaft in der Mark Brandenburg zuende.

Der Stadtteil ist nach dem Kreuz auf dem Denkmal für die Befreiungskriege im Viktoriapark benannt.
Der Stadtteil ist nach dem Kreuz auf dem Denkmal für die Befreiungskriege im Viktoriapark benannt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Als Husein elf war, begannen die Jugoslawienkriege im Land seiner Eltern. Ihre Dramatik begleitete sein Erwachsenwerden. Er musste das Nicht- Verstehbare verstehen. Dass er später Jura studierte und nicht Geschichte, liegt vor allem daran, dass ein Historiker kaum eine Kanzlei eröffnen kann. Ein Volk ohne Geschichte hat keine Zukunft, glaubt Husein.

Bis eben hat man Straßen umbenannt, deren Namensgeber Schuld auf sich geladen hatten. Zählt die Befreiung des eigenen Landes dazu? Die Mohrenstraße war natürlich ein Sonderfall. Husein kann den Rassismus darin nicht hören, betont aber sofort seine Unzuständigkeit. Doch eins ist klar: Nach bloßen Sklaven benennt man keine Straßen. Es lag, wie auch immer, Wertschätzung darin, Anerkennung für die schwarzen Musiker des Kurfürsten.

Der neue Name ist ohne Zweifel glücklich gewählt: Anton Wilhelm Amo war der erste schwarze Philosoph und Rechtswissenschaftler in Deutschland. Seine Promotion 1729, natürlich auf Latein, trug den Titel: „De iure Maurorum in Europa“. Und da ist es schon wieder, das zu tilgende Wort: „Über die Rechtsstellung der Mohren in Europa.“

Rio Reiser war keine Frau. Aber wenigstens homosexuell

Werner Heck weiß genau, wie konservativ selbst absolut Nichtkonservative reagieren können, wenn es um Straßennamen geht. Der Kreuzberger Heinrichplatz hätte eigentlich in diesen Tagen seinen Namen verlieren sollen, um künftig Rio-Reiser-Platz zu heißen. Corona kam dazwischen. Beschlossen ist es seit einem Jahr. Doch gab es überraschend viele Gegenstimmen.

Anhänger des Hohenzollern-Prinzen Heinrich von Preußen hatte man in Kreuzberg nicht vermutet. Aber es war eben der „Heini“ seit über 100 Jahren. Ein Stück Stadtgeschichte. Gegen den Kreuzberger Ton-Steine-Scherben-Sänger sprach auch, dass er keine Frau war. Also wurde der Umbenennungsbeschluss unter besonderem Hinweis auf Rio Reisers Homosexualität gefasst. Beide preußische Prinzen Heinrich waren doch auch homosexuell, zwei queere Hohenzollern!

Straßennamen sind Ausdruck von Wertschätzungen, neue kommen hinzu, weshalb durchaus einmal der Name eines Schlachtfelds verschwinden könnte. Aber zwölf oder noch mehr Kreuzberger Straßen und Plätze umbenennen?

Das würde zudem teuer. Es sind ja nicht die Straßenschilder allein. 18.000 Menschen, 900 Unternehmen bräuchten neue Adressen, geänderte Personalausweise. Heck weiß das. Vielleicht könnte man die Namen bloß anderen Trägern zuordnen? Die Yorckstraße etwa seinem Nachfahren Peter Graf Yorck von Wartenberg, Mitverschwörer des 20. Juli. Bei Heinrich Wilhelm von Horn würde es schon schwierig. Er hat die Kinderarbeit in Preußen abgeschafft, eigentlich schade um ihn.

Bei Blücher wird es wieder einfacher. Nicht Gebhard Leberecht von, sondern einfach Heinrich. Heinrichs Verdienst: Der Kommunist hat in dritter Ehe Hannah Arendt geheiratet. Gebhard Leberecht hatte bei Waterloo Napoleon besiegt.

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