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Nachwuchs händeringend gesucht: Wo haben Berlins Abiturienten die besten Job-Chancen?
Ob IT, Luft- und Raumfahrt oder das Bildungswesen: Schulabsolventinnen haben heute viel Auswahl – und können daher besonders anspruchsvoll sein.
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Wer 2024 Abitur macht, startet in einen Stellenmarkt im Umbruch: Die Transformation rund um Künstliche Intelligenz, Digitalisierung und Klimaschutz bringt ganze Berufszweige durcheinander, lässt aber gleichzeitig neue, spannende Tätigkeitsfelder entstehen. Der Fachkräftemangel zieht an, und Arbeitgebende müssen sich – anders als früher – stärker nach den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Mitarbeitenden richten.
Und: Die Arbeitskultur insgesamt ist im Umbruch, mobiles Arbeiten, „Purpose“ und Sinnhaftigkeit sowie ein wertschätzender Umgang gewinnen an Relevanz. Wie bewerten Arbeitgeber die Situation, wie erleben sie junge Berufseinsteigende – und wo liegen besonders vielversprechende Chancen?
Antworten auf diese Fragen finden sich bei Oliver Jesgulke. Der Berliner Headhunter vermittelt Fach- und Führungskräfte an verschiedene Unternehmen. Der 43-Jährige arbeitet viel im Tech- und Start-up-Bereich, vermittelt aber auch in andere Branchen. In welchen Sektoren tut sich aktuell besonders viel?

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„Wachstum sehen wir vor allem in den Bereichen Verteidigung, Luft- und Raumfahrt, aber auch im Blick auf Software, KI, Robotik und Halbleiter“, so Jesgulke. Hinzu käme das zukunftsträchtige Feld der „Green Economy“ und auch die Gesundheitswirtschaft. „Und natürlich wird auch im produzierenden Gewerbe, im öffentlichen Dienst, bei Polizei, Bundeswehr und im Bildungswesen Nachwuchs gesucht.“
Außerdem erlebt Jesgulke, dass Betriebe aus sämtlichen Branchen immer häufiger vor dem Problem stehen, dass sich keine Unternehmensnachfolge findet – auch hier böten sich also Chancen.
Gibt es Berufsbilder oder Tätigkeiten, die in Zukunft an Bedeutung gewinnen werden? Headhunter Jesgulke holt weit aus, spricht über KI-Consultants und Prompt-Engineers, Nachhaltigkeitsfachleute im Baugewerbe und Mobilitätssektor, aber auch über den Datenethiker oder die Drohnenpilotin.
Trends sind nicht alles
Und dann sind da Berufe, die es schon gibt, die aber laut Jesgulke immer stärker gefragt sind: Data-Analysts, Fachleute für Cybersecurity oder UX/UI-Design, aber auch Personaler und Recruiterinnen. Und es gibt Berufe, die sich wandeln: „Was früher ein Redakteur war, ist heute ein Content Creator – und der muss nicht nur schreiben, sondern auch Bewegtbild beherrschen und sich auf unterschiedlichsten Plattformen und Kanälen bewegen können.“
Sollten frisch gebackene Abiturient:innen also vor allem die Boom-Branchen in den Blick nehmen? Cindy Forte schüttelt entschieden den Kopf. Sie ist Berufsberaterin bei der Arbeitsagentur in Charlottenburg und berät vor allem Jugendliche und junge Erwachsene. Sie sagt: „Trends sind nicht die primäre Frage, obwohl sie natürlich ein wichtiger Teil von vielen Überlegungen sind.“

© Cindy Forte
Wenn sie mit Schüler:innen über berufliche Perspektiven spricht, stellt sie den Menschen in den Fokus. „Wir filtern gemeinsam heraus, was die Motivlagen sind“, so Forte. Da gehe es um Talente und Neigungen, um Interessen und Leistungen in der Schule, aber auch um die Art des Studiums oder der Ausbildung – und um das künftige Berufsumfeld.
„Ich frage dann zum Beispiel, ob die Jugendlichen sich als Freigeist sehen oder ob Sicherheit ihnen wichtiger ist“, so die Berufsberaterin. Sie rate auch dazu, „Self-Assessments“ im Internet zu nutzen, um Klarheit über Wünsche und Erwartungen zu gewinnen.
Wenn es um die Studienwahl geht, lotet Forte mit den Schüler:innen zunächst aus, ob Uni, FH oder duales Studium am besten passen. „Mag ich es, mir Fragestellungen selbst zu erarbeiten und schreibe gern Erörterungen? – Dann passe ich gut an eine Uni“, so Forte. „Will ich wissen, wozu ich das brauche, was ich gerade lerne, dann ist vielleicht ein FH-Studium besser geeignet.“
Geht es um die Wahl des Fachs, rät Cindy Forte, sich die Studien- und Prüfungsordnungen genau anzuschauen. „Vielleicht bemerke ich dann, dass mich ein ganz bestimmtes Modul interessiert, ich mit den restlichen 15 aber wenig anfangen kann.“
Wenn wir Auszubildenden eine Übernahme anbieten, kommt es vor, dass diese erst einmal ein Sabbatical machen wollen, etwa um Reisen zu gehen.
Jörg Schäfer, Berliner Charité
Also auf jeden Fall studieren? Daten zeigen, dass heute deutlich mehr Menschen an die Hochschule gehen als früher. Rund 56 Prozent eines Jahrgangs nehmen in Deutschland ein Studium auf – vor 20 Jahren waren es nur 37 Prozent. „Es gibt aber auch gute Gründe, nach dem Abitur eine Ausbildung zu machen“, sagt Jörg Schäfer. Er ist Leiter Personal und Organisationsentwicklung bei der Berliner Charité, die mit knapp 24.000 Mitarbeitenden zu den größten Arbeitgebern Berlins zählt.
Akademisierung der Pflegeberufe
Die Charité bietet 400 Ausbildungsplätze in 18 verschiedenen Berufen an, 71 Prozent der Auszubildenden starten mit Abitur oder Fachabitur. Zudem bietet die Charité die dualen Studiengänge Hebammenwissenschaft und – ab Herbst 2024 – Pflegewissenschaft an. „Die Pflegeberufe akademisieren sich, in vielen Ländern Europas ist das schon Standard“, sagt Schäfer.

© Wiebke Peitz
Hat die Charité angesichts des notorischen Fachkräftemangels in der Pflege Schwierigkeiten, Auszubildende zu finden? Nein, meint Schäfer, das Interesse sei nach wie vor groß – und das nicht ohne Grund: „Die Charité kann Spitzenmedizin und bietet ein Arbeitsumfeld, das facettenreich und international ist – unsere Beschäftigten stammen aus 125 Nationen“, so Schäfer. Eine Ausbildung könne auch ein Sprungbrett in andere Bereiche oder in ein anschließendes Studium sein. Und: Die tariflichen Rahmenbedingungen, etwa die Ausbildungsvergütung, hätten sich in den letzten Jahren deutlich verbessert.
Klare Vorstellungen
Die neuen Berufseinsteigenden, so Schäfer, seien selbstbewusst und hätten klare Vorstellungen. „Wenn wir Auszubildenden eine Übernahme anbieten, kommt es vor, dass diese erst einmal ein Sabbatical machen wollen, etwa um Reisen zu gehen.“ Auch die Ausbildungszusagen würden sinken: „Die Leute entscheiden sich häufiger als früher um und springen dann ab.“
Der Job ist längst nicht mehr das Einzige, was zählt.
Oliver Jesgulke, Headhunter
Wie ticken die Berufseinsteigenden? Diese Frage beschäftigt auch die Deutsche Bahn, die in diesem Jahr 6000 Azubis und dual Studierende einstellt – ein neuer Unternehmensrekord. „Wir stellen fest: Sie fühlen sich vor allem in einer Gemeinschaft wohl, wünschen sich eine sichere, erfolgreiche und glückliche Zukunft“, so eine Unternehmenssprecherin.
„Sie sind tolerante und sicherheitssuchende Teamworker, sehr dynamisch und zugleich anspruchsvoll im Hinblick auf den künftigen Arbeitgeber.“ Zudem gehe es zunehmend um den „Personal Purpose“. „Dieses Thema und die Frage nach Individualität werden in den kommenden Jahren noch wichtiger“, so eine Bahn-Sprecherin.
Ähnliches berichtet auch Headhunter Oliver Jesgulke: „Es wird schneller nach Teilzeitmodellen, Vier-Tage-Wochen und unbezahltem Urlaub gefragt. Neben der Work-Life-Balance beschäftigt sich der Nachwuchs wesentlich stärker mit Fragen nach Gestaltungsspielräumen und Sinnhaftigkeit.“
Die Transformation finde nicht nur in der Industrie statt, so Jesgulke, sondern auch in den Köpfen: „Der Job ist längst nicht mehr das Einzige, was zählt.“
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