
© ALI GHANDTSCHI
Exiljournalist aus Afghanistan : „Ich lebe zerrissen zwischen zwei Welten“
Es führt kein Weg zurück ins Paradies der Kindheit: Ahmad Wali Temori erzählt über sein Leben mit einem Riss in der Identität.
Stand:
Im August 2015 kam ich als Flüchtling aus Afghanistan nach Berlin und drei Jahre später bekam ich die Gelegenheit, in einem Artikel für den Tagesspiegel über meine Fluchterfahrungen und über meine Situation als Flüchtling zu schreiben. Heute, zehn Jahre nach jener berühmten Flüchtlingswelle, habe ich erneut die Möglichkeit, über mein Befinden zu berichten.
„Heim“ ist kein Synonym für „Heimat“, sondern für ein ganz anderes Wort, welches „Zuhause“ heißt. Während „Heim“ bzw. „Zuhause“ im Hier und Jetzt existiert, kann die „Heimat“ weit entfernt davon liegen: geografisch genauso wie zeitlich.
In jenem Artikel habe ich erwähnt, dass der deutsche Begriff „Heimat“ vom Wort „Heim“ stammt. Der Unterschied zwischen beiden Worten besteht aus diesem Wortbestandteil „at“, das man ans Ende des Begriffes „Heim“ setzt. Doch, genau diese Kleinigkeit kann viel in der Bedeutung des Wortes ändern. Denn die Bedeutungsdimension der „Heimat“ beinhaltet viele weitere Aspekte als einen bloßen Wohnraum mit vier Wänden.
Für einen Menschen, der schon immer an einem bestimmten Ort gelebt hat – angepasst und in Einklang mit seinem Umfeld, kann der erwähnte Unterschied fremd sein, und er kann alle drei Ausdrücke bedeutungsgleich verstehen und verwenden. So ein Mensch kennt keinen Widerspruch zwischen „Heimat“ und „Zuhause“, er kennt keine Erfahrung der sozial-kulturellen oder geistig-emotionalen Spaltung, er kennt keinen Riss in seiner Biografie oder zwischen sich und der Gesellschaft und schließlich keinen Riss in seiner Identität und Identitätserfahrung.
Aber ein Mensch, der gezwungen wurde, seiner Heimat und damit dem sozialen und kulturellen Raum, in dem er geboren und aufgewachsen ist, den Rücken zu kehren und in ein fremdes Land zu immigrieren, macht Erfahrungen, die für Einheimische und Sesshafte schwer nachzuvollziehen sind.
Ich werde noch immer als Fremder angesehen.
Ahmad Wali Temori aus Afghanistan.
So ein Mensch kann zwar ein neues Zuhause gefunden haben, Sicherheit und Geborgenheit, die er in seiner alten Heimat nicht mehr haben kann, aber er erlebt die Kategorien „Heim“/“Zuhause“ und „Heimat“ als zwei Gegensätze, die miteinander kaum zu versöhnen sind. Diese Gegensätzlichkeit geht wie ein Riss durch sein Leben und umfasst alle Bereiche seines existenziellen Daseins.
Wie fühle ich mich also heute – rund zehn Jahre, nachdem ich im August 2015 nach Deutschland kam?
Ich bin inzwischen deutscher Staatsbürger und sehe mich als Deutschen. Aber ich bezeichne mich eher als ‚Papierdeutschen‘ und werde immer wieder gefragt, wo ich herkomme. Wenn ich antworte, dass ich aus Deutschland komme, wird sofort zurückgefragt: „Nein, ich meine, wo du herkommst. Aus welchem Herkunftsland?“

© Ali Ghandtschi
Es ist nicht nur schwer, von einer „Heimat“ zu sprechen, manchmal ist es sogar schwer, sich hier zuhause zu fühlen. Aber auch seit Jahren ist es in Bezug auf mein Heimatland genauso, das Gefühl von einem Zuhause für mich, habe ich schon lange nicht mehr.
Da die meisten mich als Afghanen einordnen, egal, wie ich mich verhalte, werde ich hier immer noch als Fremder angesehen. Ich habe mich deshalb selbst Großteils verloren, weiß nicht genau, auf welcher Seite ich stehe oder besser gesagt, zu wem ich gehöre?
Das Dorf meiner Kindheit war ein Paradies
Ich bin in einem kleinen Dorf, das wie Paradies anmutete, geboren und habe dort die schönsten ersten Jahre meines Lebens verbracht. Es war von Bergen schützend umgeben und ich erinnere mich an klares Wasser, an schmackhaftes Obst und Gemüse. Am grandiosen Nachthimmel funkelten die Sterne fantastisch wie ein Wunder.
Ich sah mit meinem Bruder (der nicht mehr lebt, weil er von den Taliban ermordet wurde) zum Himmel hinauf und wir sprachen über ferne Länder wie Amerika, Kanada und Deutschland und fragten uns: Wie leben die Menschen dort? Was essen sie und wie wohnen sie? Wenn wir in der Nacht ein Flugzeug gesehen haben, dann haben wir uns gewünscht, eines Tages in einem Flugzeug zu sitzen und irgendwohin zu fliegen. Und zu sehen, wie es ist, von oben auf die Erde zu schauen?
Ich habe so viele Todesnachrichten bekomme, dass ich am liebsten nicht mehr ans Handy gehen möchte.
Ahmad Wali Temori, Journalist aus Afghanistan
Nun bin ich hier, und seitdem ich in Berlin lebe, habe ich so viele Todesnachrichten aus meiner Heimat bekommen, dass ich Angst und heftiges Herzklopfen bekomme, sobald ein Anruf aus Afghanistan kommt. Am liebsten würde ich gar nicht ans Handy gehen!
Ich will die Vergangenheit oft ruhen lassen und nicht daran denken. Aber das gelingt mir nicht. Ein Teil von mir lebt immer noch dort, und das wird bis zum Ende meines Lebens auch so bleiben.
Deutschland hat Sicherheit, Freiheit, Bildung gegeben
Auf der einen Seite hat mir Deutschland alles gegeben, was in meinem Heimatland nicht möglich war, Sicherheit, Freiheit, Bildung usw.; ich kann sein, wie ich sein möchte, aber trotzdem muss ich immer wieder für meine Identität kämpfen. Und andererseits, wenn ich auf Afghanistan blicke, sind nur quälende Erinnerungen und schmerzhafte Gefühle übriggeblieben.

© ALI GHANDTSCHI
Oft beschäftige ich mich mit dem Wort „Heimat“. Was bedeutet es genau? Habe ich noch eine Heimat auch in der Gegenwart oder existiert sie nur in der Vergangenheit?
Mit der Zeit habe ich mich geändert, ich spreche jetzt nicht über meine Flucht, die Schwierigkeiten, die ich hatte, oder über das kleine Paradies meiner Kindheit, über all diese Sachen, die jetzt für mich Geschichte geworden sind. Nun beschäftige ich mich nur mit alltäglichen Problemen: warum die Wohnungssuche in Berlin sehr schwierig geworden ist. Was sollen wir dagegen tun, dass die rechten Extremisten sehr stark geworden sind? Wie geht es weiter mit Klimawandel, Nahost, Ukrainekrieg undsoweiter?
Was mein Land angeht, wurde es in die Steinzeit zurückgeworfen. Auch die Gesellschaft hat sich seit der Machtergreifung der Taliban zum Negativen verändert, wie man sich es Deutschland nicht wirklich vorstellen kann. Jeder Schritt der Menschen wird durch die islamistische Regierung beobachtet. Ich weiß, dass dieses Land – so, wie es jetzt ist – keine Heimat mehr für mich sein kann.
Heimat ist, wo man sich verstanden und akzeptiert fühlt. Ich lebe zerrissen, immer noch mit zwei Seelen in meiner Brust zwischen zwei Welten – der Welt meines gegenwärtigen Zuhauses und der Welt meiner vergangenen Heimat.
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