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Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der Charité: „Wir denken Gesundheit neu“
An einer massiven Digitalisierungsoffensive führt kein Weg vorbei, um das Niveau der deutschen Gesundheitsversorgung zu halten – davon ist Heyo K. Kroemer überzeugt. Ein Gespräch.
Stand:
Herr Kroemer, wo steht das deutsche Gesundheitswesen bei der Digitalisierung heute?
Am Anfang einer dringend nötigen Implementierungsphase. Es wurden gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen, jetzt müssen wir schnell und deutlich vorankommen. Ich halte das für völlig alternativlos. Der Begriff Fachkräftemangel suggeriert ja immer, dass es diese Fachkräfte irgendwo geben würde. Das ist falsch.
Wir werden in den nächsten zehn Jahren auf Geburtenbasis ein Drittel unserer Fachkräfte verlieren, die Generation in meinem Alter. Das werden wir nur dann ohne massive Qualitätseinbußen bewältigen können, wenn wir die medizinische Versorgung umfangreich digital hinterlegen. Das haben einige immer noch nicht so ganz verstanden.
Von welchen gesetzlichen Veränderungen versprechen Sie sich besonders viel?
Aus übergeordneter Sicht ist die elektronische Patientenakte in der jetzt geplanten Opt-out-Variante schon ein deutlicher Fortschritt. Und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz ist gerade aus Sicht der universitären Medizin sehr interessant, das wird einiges möglich machen, was bisher mühsam bis unmöglich war.
An welchen Ländern können oder sollten wir uns in Deutschland besonders orientieren?
Da sind zum einen die skandinavischen Länder, die einiges sehr gut hinbekommen haben, und zwar sowohl in Bezug auf digital gestützte Versorgungsstrukturen als auch auf die Forschung mit Versorgungsdaten. Die Niederlande und Israel fallen mir noch ein, aber auch ein Land wie Spanien, das in der politischen Diskussion weniger im Fokus steht. In Deutschland können wir uns bei der Digitalisierung derzeit eigentlich fast überall etwas abgucken.
Was sind die Themen, die uns hierzulande in den kommenden Jahren besonders beschäftigen werden?
Wir müssen uns grundsätzlich darüber Gedanken machen, wie Medizin in Zukunft funktioniert. Ich habe an meinem Handgelenk eine Uhr, aus der ich ein EKG inklusive Diagnose ableiten kann. Wenn sich die Sensorik in dieser Geschwindigkeit weiterentwickelt, kann man sich nüchtern fragen, was in Zukunft eigentlich noch im Krankenhaus gemacht werden muss – und was nicht.
Wie könnte die Zukunft aussehen?
Ich habe die Tage eine Präsentation von einem Kollegen aus dem Sheba Medical Center in Tel Aviv gesehen. Da werden Frauen mit Hochrisikoschwangerschaften zu Hause überwacht, inklusive heimbasierter, KI-gestützter Durchführung des Herzultraschalls. Das kann man jetzt beliebig weiterdenken. Dann der ganze Präventionsbereich: Es gibt im Gesundheitssystem keinerlei Anreiz, Menschen gesund zu halten. Das ist kein reines Digitalisierungsthema, aber durch die Digitalisierung eröffnen sich hier neue Optionen. Ein anderes, wichtiges Thema ist die Diagnoseunterstützung, und dann natürlich die datenbasierte Forschung.
Stichwort Forschung: In der Krebsmedizin und darüber hinaus wird die Generierung von Real-World-Evidenz immer wichtiger. Welchen Stellenwert hat diese Art Forschung an der Charité?
Die hat schon heute einen hohen Stellenwert, und das wird auch noch wichtiger in Zukunft. Die Frage ist ja, inwieweit Datengenerierung in Krankenhäusern wirklich schon „real-world“ ist. Ist die Kombination aus im Alltag digital erhobenen Parametern mit klinischen Versorgungsdaten nicht viel realer? Wir versuchen uns dem an der Charité zu nähern.
In welcher Weise zum Beispiel?
Wir haben beispielsweise Anfang 2023 durch den Zusammenschluss der herzmedizinischen Einrichtungen der Charité und des Deutschen Herzzentrums Berlin (DHZB) das Deutsche Herzzentrum der Charité (DHZC) gegründet. Dort entsteht eine Modellklinik, die übergangsfrei Daten aus der Häuslichkeit mit klinischen Daten kombinieren kann – für die Versorgung und für die Forschung. Auch die subsequente Auswertung von realen Versorgungsdaten mit künstlicher Intelligenz ist ein Thema, das uns – wie viele andere – sehr interessiert.

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Welche digitalen Strukturen sind für so eine Art von Forschung nötig? Das ist ja kein Selbstläufer.
Das ist es überhaupt nicht, nein. Die interessante Frage ist, warum wir das nicht schon längst haben. Das hat mit dem lange Zeit fehlenden regulatorischen Rahmen zu tun, der durch das Gesundheitsdatennutzungsgesetz erst jetzt teilweise geschaffen wurde. Was wir außerdem dringend brauchen, ist eine vernünftige digitale Infrastruktur – im Gesundheitswesen, aber auch in den einzelnen Einrichtungen.
Wenn Sie sich anschauen, welchen Anteil ihrer Umsätze Krankenhäuser bisher in digitale Infrastruktur gesteckt haben, dann ist das weit von dem entfernt, was vergleichbare amerikanische Institutionen zur Verfügung haben. Wir müssen viel mehr Cloud-basiert arbeiten, was überall außerhalb Deutschlands selbstverständlich ist. Die ganze Arbeit mit KI-Anwendungen, die uns letztlich über den demografischen Wandel hinüberretten werden, funktioniert nur, wenn es eine exzellente digitale Infrastruktur gibt.
Sie haben gerade ein neues Krankenhausinformationssystem (KIS) ausgeschrieben, die größte derartige Ausschreibung, die es in Deutschland je gab. Wie ist die Gesamtstrategie?
Im Moment sind wir dabei, die Vorgaben des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG) zu erfüllen und das mit der KIS-Ausschreibung zu kombinieren. Unter dem Titel „Wir denken Gesundheit neu“ haben wir eine Strategie bis 2030 formuliert mit dem Ziel, besser zu versorgen und besser zu forschen. Wir lernen viel im Austausch mit unseren nationalen Partnern im Netzwerk Universitätsmedizin. Zudem haben wir ein Netzwerk mit den zehn größten europäischen Unikliniken aufgesetzt. Denn letztlich haben alle Universitätskliniken ähnliche Probleme.
Ihr wichtigstes Einzelprojekt ist aktuell die eben erwähnte KIS-Ausschreibung. Wie sieht der zeitliche Horizont aus, und welche anderen Projekte sind prioritär?
Wir sind bei der KIS-Implementierung nicht völlig frei. Das System, das wir derzeit haben, ist im Prinzip für 2027 abgekündigt, was für solche Großprojekte ein relativ kurzer Zeitraum ist. Wir werden sehen. Ein zweites, sehr wichtiges Thema ist die gemeinsame Datenplattform, die wir zusammen mit den kommunalen Kliniken vonVivantes aufgebaut haben – trotz unterschiedlicher KIS-Systeme. Da fließen von uns rund 3300 und von Vivantes rund 5500 Betten ein. Das ist schon ein Datensatz, mit dem man arbeiten kann. Wir weiten das jetzt auf andere Krankenhäuser aus, bis hinein nach Brandenburg.
Sind solche digital integrierten, regionalen Plattformen auf Dauer das Zukunftsmodell der Gesundheitsversorgung in Deutschland?
Das „auf Dauer“ würde ich streichen, ich halte das eher für eine Übergangslösung. Dauerhaft müssen wir bundesweit denken, das können wir nicht überall regional lösen. Ich glaube schon, dass es Bedarf für lokale Systeme gibt, die stationäre und ambulante Versorgung barrierefrei vernetzen. Aber trotzdem braucht es auf nationaler Ebene eine Gesamtlösung.
Wo setzen Sie an der Charité KI-Lösungen ein oder planen das?
Im Bereich Bildgebung gibt es diverse Initiativen, in der Pathologie, auch in der Neurologie und in der Notaufnahme. Dort nutzen wir zum Beispiel ein Tool, das überprüft, ob Menschen, die mit COPD kommen, leitliniengerecht behandelt werden. Interessanter als solche Einzellösungen finde ich aber die Frage, ob wir ein integriertes KI-Modell entwickeln können, das über das ganze Klinikum hinweg – von der Aufnahme über den OP-Saal bis zur Verwaltung – für unterschiedliche Zwecke nutzbar ist.
Darüber denken wir mit Blick auf die eingangs erwähnte Herausforderung, demografiefest zu werden, intensiv nach. Nochmal: Es gibt meines Erachtens überhaupt keine andere Option als das System zu digitalisieren und mit KI zu hinterlegen, auf allen Ebenen. Da sind wir dran, zusammen mit großen Anbietern und versuchen, das irgendwie hinzukriegen.
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