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Sie stehen im Schatten: Wie geht es Geschwistern von Kindern mit seltenen Erkrankungen?
Leidet ein Kind an einer seltenen Krankheit, ist die ganze Familie betroffen, besonders die Brüder oder Schwestern. Eltern haben häufig nicht die Kraft, daran etwas zu ändern
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„Erst bei der Beerdigung des zweiten betroffenen Kindes habe ich erfahren, dass es in der Familie noch ein gesundes Kind gab“, berichtet die Kinderärztin und Krebsspezialistin Eunike Velleuer-Carlberg sichtlich bewegt. Die Oberärztin am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Helios Klinikums Krefeld ist Spezialistin für die extrem seltene Fanconi-Anämie, bei der eine genetische Veränderung dazu führt, dass das Knochenmark seiner Aufgabe, neue Blutkörperchen zu bilden, schon früh nicht mehr nachkommen kann.
Folgen des Gendefektes sind nicht nur eine Blutarmut, sondern auch ein extrem erhöhtes Risiko, später Tumoren an der Schleimhaut zu entwickeln. Velleuer-Carlberg begleitet ihre kleinen Patienten und deren Eltern über Jahre. Von dem Geschwisterchen, das keine Behandlung brauchte, erfuhr sie trotzdem erst spät.
Das gesamte Leben verändert sich
Die Kinderärztin weiß, wie sehr sich das gesamte Leben einer Familie verändert, wenn eines ihrer Mitglieder mit einer schweren Ausprägung dieser Krankheit lebt. Die Fanconi-Anämie kommt unter einer Million Geburten nur fünf bis zehnmal vor. Dank des Engagements von Elterninitiativen wurde diese „Seltene“ in den letzten Jahrzehnten besonders intensiv beforscht, und inzwischen ist klar, dass mehr als 23 verschiedene Gene im Spiel sein können.
Bei den meisten dieser Gene sind die Eltern der betroffenen Kinder klinisch gesund, tragen jedoch die genetische Besonderheit beide in ihrem Erbgut. Unwissentlich. Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie erfahren, dass sie die autosomal-rezessiv vererbbare Krankheit weitergegeben haben. Dass das bei einem solchen Paar mit 25prozentiger Wahrscheinlichkeit geschieht, hält viele Paare davon ab, weitere Kinder zu planen.
Die Geschwister fühlen sich häufig schuldig, selbst gesund zu sein
Seit drei Jahren ist Velleuer-Carlberg an einem Projekt beteiligt, in dem Psychologen der Uni Würzburg zusammen mit der Selbsthilfegruppe Deutsche Fanconi-Anämie Hilfe e.V. die Herausforderungen für die familiären „Caregiver“ untersuchen.
„Zu den ersten Erkenntnissen gehört: Die Geschwister fühlen sich häufig schuldig, selbst gesund zu sein“, berichtet die Pädiaterin. Nur wenige von ihnen kommen als Knochenmarkspender für den erkrankten Bruder oder die Schwester in Frage. Und oft stehen sie mit ihren Bedürfnissen hintan, weil die Eltern ihre Kräfte für die Unterstützung des kranken Kindes brauchen.
Wenn die gesunden Geschwister älter werden, sind sie zudem oft wichtiger Bestandteil des Helfersystems, das sich um ein schwer krankes Familienmitglied herum bildet. Sie wissen auch, dass sie ein genetisches Risiko tragen können, zusammen mit einem ebenfalls familiär belasteten Partner erkrankte Nachkommen zu zeugen.
Mehr als vier Millionen Menschen, darunter mehr als zwei Millionen Kinder und Jugendliche, leiden allein in Deutschland an einem der rund 8000 „rare diseases“. Die meisten dieser Krankheiten sind genetisch bedingt, führen zu schweren Einschränkungen und reduzieren die Lebenserwartung drastisch. Nur selten sind sie heilbar. Da die „Seltenen“ zusammengenommen gar nicht so selten sind, trifft das zahlreiche Familien.
Die Professorin Silke Wiegand-Grefe von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) leitet ein Netzwerk mit dem langen Namen CARE-FAM-NET, das sich gezielt wissenschaftlich wie praktisch um die seelische Gesundheit von Kindern mit seltenen Erkrankungen und ihrer Familien kümmert. Die Geschwister der schwerkranken Kinder liegen ihr dabei besonders am Herzen.
„Vor allem die älteren Geschwister stehen oft im Schatten des kranken Kindes, müssen funktionieren und haben das Gefühl, die Eltern nicht zusätzlich belasten zu dürfen.“ Dabei sind auch sie noch Kinder mit kindlichen Bedürfnissen. 20 bis 30 Prozent der Geschwisterkinder entwickeln verschiedenste Verhaltensauffälligkeiten. „Viele Eltern merken, dass die Geschwister zu kurz kommen, haben deshalb Schuldgefühle, schaffen es aber kräftemäßig nicht, das zu ändern.“
Familien wurden online und offlline beraten
An den 17 Standorten des Projekts, das vom GBA-Innovationsfonds finanziert wurde, kooperierten Kinderkliniken und Institutionen der psychosozialen Medizin. Über ein halbes Jahr wurde die ganze Familie in mehreren Terminen online und offline beraten, dabei gab es auch ein bis zwei Einzelgespräche mit den Geschwistern. Zusätzlich wurden den Familien auch weiter gehende und langfristige Hilfsangebote vorgestellt.
„Unser Gesundheitssystem konzentriert sich generell sehr stark auf das Individuum. Angehörige, die von einer Krankheit mit betroffen sind, kommen da oft zu kurz“, bedauert Wiegand-Grefe. „Dabei hat die Evaluation unseres Projekts ergeben, dass die Intervention nicht nur zu signifikant höherer Lebensqualität, sondern auch zu geringeren Gesundheitskosten führt.“
Bei manchen Kindern bildet sich eine Widerstandskraft, die ihnen ermöglicht, ihr Leben vermehrt selbständig zu gestalten.“
Milena Koch, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin
Einige der Themen, um die es dort geht, betreffen alle Familien, in denen schwere Erkrankungen auftreten, etwa Krebs. Auch wenn eines der Kinder an einer häufigeren Erkrankung leidet, geht das an den anderen schließlich nicht spurlos vorbei. Die in Treptow niedergelassene Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Milena Koch sagt dazu: „Die Reaktionsformen können vielfältig sein. Bei manchen Kindern bildet sich eine Widerstandskraft, die ihnen ermöglicht, ihr Leben vermehrt selbständig zu gestalten.“

© Klas Förster
Für viele Geschwisterkinder stelle die körperliche oder psychische Erkrankung eines Familienmitgliedes jedoch eine Belastung dar, auf die sie etwa mit sozialem Rückzug oder Leistungseinbrüchen in der Schule reagieren. Einige von ihnen entwickeln dann sogar selbst behandlungsbedürftige psychische Erkrankungen, etwa Zwänge, Ängste und Depressionen. „Eltern können versuchen, Geschwisterkinder zu unterstützen, indem sie auch ihnen Raum und Zeit einräumen und Interesse für ihre Lebenssituation zeigen.“
Im Alltag mit einem schwer erkrankten Kind ist das meist nicht leicht. „Doch oft können schon zehn bewusst nur mit dem Geschwisterkind gemeinsam verbrachte Minuten am Tag, ob beim Zubettgehen, beim Zur-Schule-Bringen oder beim gemeinsamen Kochen, einen Unterschied machen“, betont Milena Koch. Ganz wichtig sei bei alldem, dass die Eltern selbst so gut wie möglich auf ihre Ressourcen achten, um auch für Geschwisterkinder präsent bleiben zu können.
Bei den Seltenen Erkrankungen wird die Situation zusätzlich dadurch erschwert, dass es oft quälend lange dauert, bis die Diagnose steht. Die Familien leben deshalb lange in Unsicherheit, gehen zu vielen Ärzten, können sich schwerer mit anderen Familien vernetzen. „Die Kindheit ist für Geschwisterkinder der Erkrankten häufig schwierig, weil man als gesundes Kind oft hintan steht“, fasst Fanconi-Spezialistin Velleuer-Carlberg zusammen.
Sie fügt aber gleich eine ermutigende Aussage hinzu: „Mich beeindruckt, dass viele dieser Geschwister später von sich selbst sagen, sie hätten es als Erwachsene einfacher, weil ihre Erfahrungen in der Familie sie gestärkt haben.“
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