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Er entdeckte die Ästhetik des Hässlichen: Wer war der Dichter Charles Baudelaire?
Rausch, Absturz, Melancholie: Mit Baudelaire begann die Moderne in der Lyrik. Ein Porträt anlässlich der Ausstellung in der Sammlung Scharf-Gerstenberg
Stand:
Ein Schwan gehört aufs heilignüchterne Wasser, das wissen wir nicht erst seit Hölderlin. Was also hat solch ein Tier auf dem Pflaster von Paris verloren? Dass es ihm dort, inmitten einer infernalischen Baustelle auf der Place du Carrousel, nicht behagt, dass es sogar Vorwürfe gegen Gott zu schleudern scheint, fasst Charles Baudelaire 1861 in diese Worte: „[Là je vis] … Un cygne qui s‘était évadé de sa cage / Et, de ses pieds palmés, frottant le pavé sec / Sur le sol raboteux traînait son blanc plumage. / Près d’un ruisseau sans eau la bête ouvrant le bec“.
In der Prosaübersetzung von Friedhelm Kemp: „[Dort sah ich] … einen Schwan, der aus seinem Käfig entwichen war und, mit dem Schwimmfuß das trockene Pflaster scharrend, über den holprigen Boden sein weißes Gefieder schleifte. An einem wasserlosen Rinnstein riss das Tier den Schnabel auf“.
Eine Welt, die sich rasend schnell verändert
„Der Schwan“ gehört zu den berühmtesten Gedichten der „Blumen des Bösen“ („Les Fleurs du Mal“), eine Sammlung, die enorme Inspirationskraft in der Lyrik und überhaupt in der Kunst entfaltet hat – wie sehr, das illustriert aktuell die Ausstellung „Böse Blumen“ in der Galerie Scharf-Gerstenberg.
Baudelaires Generalthema kommt im „Schwan“ besonders prägnant zum Ausdruck: Entfremdung, die Nicht-Zugehörigkeit des modernen Menschen zu einer neuen Lebenswirklichkeit, die sich rasend schnell verändert. Für Baudelaire, der mit feiner Sensorik diese Umbrüche früher wahrgenommen hat als andere, wurde das – unter anderem – auch manifest im radikalen Umbau von Paris unter Georges-Eugène Haussmann.
Heute gilt uns Paris als wunderschön, hatte die französische Hauptstadt doch, anders als viele deutsche Städte nach 1945, das „Glück“, früh genug modernisiert zu werden – so dass diese Umgestaltung immer noch von hohem ästhetischen Wert war. Dennoch können wir den Schock, den das Mitte des 19. Jahrhundert ausgelöst haben muss, heute kaum mehr nachvollziehen. Es ist eine völlig neue Großstadterfahrung, die Baudelaire in seiner Dichtung gestaltet, ähnlich wie Charles Dickens oder Edgar Allan Poe, doch bei ihm noch verstärkt durch die Entdeckung des Hässlichen.

© Imago/Heinz-Dieter Falkens
Dass er heute als Frankreichs bedeutendster Lyriker des 19. Jahrhunderts, wenn nicht überhaupt gilt, war zu seinen Lebzeiten alles andere als absehbar. Geboren 1821 in Paris, hatte er sich schon als Jugendlicher mit der damals unheilbaren Syphilis infiziert, unter einem autoritären Stiefvater gelitten, sich als Dandy versucht, Literaturkritiken und Rezensionen veröffentlicht und gelegentlich Gedichte in Zeitschriften untergebracht.
Was da aber im Verborgenen heranwuchs, die monumentalen „Fleurs du Mal“, konnte damals kaum jemand ahnen; und auch nach der Publikation haben zunächst nur wenige diese Gedichte gelesen. Der Titel ist symbolisch, es geht nicht darum, ob Blumen böse sein können, sondern um die seltsamen Ausformungen, die das Böse bilden kann, sozusagen um die „Blüten des Bösen“ oder „Das blühende Böse“.
Rausch und Spleen
Wobei das „Böse“ nicht religiös oder moralisch gemeint ist, sondern viele Phänomene, Situationen, psychologische Zustände bezeichnet, in denen sich der Menschen im Industriezeitalter plötzlich wiederfindet und die vor Baudelaire kein Gegenstand traditioneller Lyrik waren: Melancholie, Depression, Aufstieg und Absturz, Armut, Alter, Rausch, Ennui (Langeweile, Weltekel, Überdruss) und immer wieder der von ihm so genannte „Spleen“, der viele Formen des Krankhaften bezeichnet und dem „Idéal“ entgegengesetzt ist. Es ist das Hässliche, das Baudelaire in den schönsten Worten besingt.

© Moritz Wehrmann, VG Bild-Kunst, Bonn 2024
In hohem, wehmutsdurchzogenem Ton wird ihm die Metropole Paris zum Sinnbild dieser Entfremdung. „Paysage“ („Landschaft“) ist das Eröffnungsgedicht der Abteilung „Tableaux Parisiens“ benannt, die große Stadt begreift er als mythologisch durchdrungene Naturszenerie. In „A une passante“ („An eine, die vorüberging“) beschreibt er den Schock, im wogenden Menschengetümmel der „heulenden Straße“ plötzlich und für einen Augenblick eine großgewachsene Frau zu entdecken und sie sofort wieder ziehen lassen zu müssen: „O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!“ (Oh du, die ich geliebt hätte, oh du, die es wusste!“).
Der fundamentale Riss
Es ist zugleich eine der ersten Großstadtszenen in der französischen Literatur, 20 Jahre nach Poes Erzählung „Der Mann in der Menge“. Noch vor Baudelaire hat Poe den fundamentalen Riss zwischen dem Individuum in der beginnenden Moderne und seiner Realität thematisiert. Es ist kein Wunder, dass Baudelaire in ihm einen Geistesverwandten fand und Poe erstmals ins Französische übersetzt hat.
Sechs Gedichte der Erstausgabe der „Fleurs du Mal“ von 1857 wurden wegen Gotteslästerung und Beleidigung der öffentlichen Moral verboten – und blieben es in Frankreich bis 1949 –, sie fehlten in der zweiten Ausgabe von 1861, die dafür 32 neue Gedichte enthielt. Krankheit, Alkohol und Drogen prägten Baudelaires letzte Lebensjahre, erst nach seinem Tod mit nur 46 Jahren wuchsen der Ruhm und die enorme Wirkung des Werks, zunächst bei französischen Dichtern wie Verlaine, Mallarmé oder Rimbaud, später auch in anderen Ländern und Sprachen.
Baudelaire als Kronzeuge
In Deutschland fertigte Stefan George die erste Übersetzung an, es gab weitere Versuche, die doch immer nur nahelegen: „Die Blumen des Bösen“ liest man, soweit möglich, im Original, um sich ganz dem Sprachfluss zu überlassen. Als bedeutendster Interpret – und ebenfalls Übersetzer – von Baudelaires Werks gilt Walter Benjamin, der Baudelaire zum wichtigen Kronzeugen seines unvollendeten „Passagen-Werks“ machte, mit dem er eine „Urgeschichte des 19. Jahrhunderts“ schreiben wollte.
Noch 1996 macht Karl Heinz Bohrer in seiner großen Untersuchung „Der Abschied – Theorie der Trauer“ das Erschrecken über das Verschwinden des Schönen vor allem an Baudelaire und dessen „radikaler Melancholie“ fest. Ihm attestiert er, als einer der ersten gewusst zu haben, dass die Gegenwart in der Moderne gar nicht mehr erfahrbar, dass sie stets schon entschwunden, das „je schon Gewesene“ sei.
Wer durch die Ausstellung „Böse Blumen“ streift und etwa Odilon Redons Kohlezeichnung „Fleurs du Mal“ von 1890 betrachtet oder Moritz Wehrmanns schauerliche Blumen-Fotografien von 2012, dem wird schnell klar, warum Baudelaire bis heute so fasziniert und modern wirkt: Die klassische Vorstellung, dass das Schöne und Gute eine Einheit bilden würden, war vor ihm bereits angekränkelt, doch er hat sie endgültig gesprengt.
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