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Besucher vor dem Gemälde von Willi Sitte "Die rote Fahne - Kampf, Leid und Sieg" in der Sonderausstellung "Hin und Weg. Der Palast der Republik ist Gegenwart", Copyright:

© Willi Sitte, Die rote Fahne - Kampf, Leid und Sieg, 1975/76 / © VG Bild Kunst, Bonn 2024 / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss/ Foto: David von Becker

Erinnerungskultur: „Nostalgie kann eine Waffe sein“

Der Palast der Republik und seine Brüder: Interview mit dem Historiker Marcus Colla zum Umgang mit Geschichte in postsozialistischen Gesellschaften.

Stand:

Herr Colla, über den Abriss des Palasts der Republik und den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses wird bis heute gestritten, wie auch die aktuelle Ausstellung im Humboldt Forum zeigt. Gibt es in anderen postsozialistischen Staaten ähnliche Debatten?
Ob man bestimmte Gebäude und andere wichtige materielle Objekte erhalten, zerstören oder anpassen sollte, ist in diesen Staaten – insbesondere in großen Städten und Hauptstädten – oft ein zentrales Thema gewesen. Besonders dort, wo neue Staaten entstanden, wie im ehemaligen Jugoslawien und in der ehemaligen Sowjetunion, stellte sich die Frage nach dem Verhältnis zu den sozialistischen Zeiten schwierig und schmerzhaft, vor allem im Hinblick auf nationale Identität. Der ostdeutsche Fall hat seine Besonderheiten – nicht zuletzt, weil er Berlin betrifft, diesen zentralen Ort des Kalten Krieges in Europa –, aber einzigartig ist er nicht.

Was sind die Besonderheiten am ostdeutschen Fall?
Die Vereinigung von Ost- und Westdeutschland hat eine fruchtbare kulturelle Landschaft für Diskussionen über den Umgang mit der Geschichte geschaffen. Problematisch war jedoch, dass solche Diskussionen – und der diskursive Rahmen, in dem sie sich entfalten konnten – überwiegend aus der westdeutschen Erfahrung stammten. Natürlich war die Frage der Deutungshoheit in anderen postsozialistischen Staaten auch nicht unumstritten. Aber ein solches Ungleichgewicht von Perspektiven und Ausdrucksmöglichkeiten wie in Deutschland gab es dort nicht.

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Vielleicht ist deswegen die Erinnerung an die sozialistische Zeit in diesen Ländern weniger von Nostalgie geprägt als in Ostdeutschland?
Ja, aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Denn die Besonderheiten der ostdeutschen Erinnerung haben vor allem damit zu tun, dass der Staat der DDR buchstäblich verschwand. Das soziale Leben ist nicht automatisch mit ihm verschwunden, musste jedoch enorme und schnelle Veränderungen durchleben. Was blieb, waren also die materiellen Überbleibsel. Und genau die materielle Kultur ist ein Lebensbereich, der oft und einfach mit Gefühlen der Nostalgie verbunden wird.

Blieb stehen: der Kultur- und Wissenschaftspalast in Warschau.

© imago/Westend61/Artur Bogacki

Der Palast der Republik ist als materielles Überbleibsel allerdings verschwunden. Sind auch in anderen postsozialistischen Staaten Kulturpaläste und -häuser abgerissen worden?
Zumindest in den Großstädten nicht, nein. Die meisten werden immer noch für kulturelle Zwecke genutzt, für Konzerte, Museen, verschiedene Institutionen, auch für Konferenzen.

Marcus Colla Marcus Colla ist Associate Professor für Moderne Europäische Politische Geschichte an der Universität Bergen. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die deutsche und osteuropäische Geschichte sowie Fragen zur Zeitlichkeit, Sprachpolitik, Erinnerung und Stadtgeschichte. 

© privat

Sie werden bei den „Transformiert euch!“-Thementagen an diesem Wochenende darüber sprechen, wie die SED „Nostalgie“ als rhetorische Waffe im deutsch-deutschen Konflikt einsetzte. Nostalgie als Waffe: Das klingt merkwürdig.
Für die SED war Geschichte von großer Bedeutung, sie versuchte ein historisches Gründungsnarrativ und damit eine eigenständige politische Identität zu schaffen. Als in den 1970er- und 1980er-Jahren im Westen eine sogenannte „Nostalgiewelle“ tobte, behauptete die SED, der Westen habe angefangen, sich nach den „guten alten Tagen“ zu sehnen, weil es im Westen keine Zukunft gäbe – im Gegensatz zur DDR! Im sozialistischen System, so die SED, sei die Zukunft noch gewiss und festgelegt ...

... und in jedem Falle positiv.
Selbstverständlich war das alles Propaganda! Doch es zeigt etwas Wichtiges über das Selbstverständnis der SED-Diktatur und den kulturellen Diskurs, den sie propagierte. Und es ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Beziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft selbst zu einer politischen Waffe werden kann.

Wie reagierten westdeutsche Beobachter darauf?
In den 1970er und frühen 80er Jahren konterten westliche Kritiker schnell, dass die „Wiederentdeckung“ Preußens in der DDR – oder zumindest die Geschichte Preußens der Aufklärungszeit – ebenfalls eine Art Nostalgie darstellte, und zwar eine gefährliche. Sie sei ein Zeichen für den Verlust der Zukunft gewesen oder, genauer gesagt, für die geschwächte Bindungskraft der Zukunft in der ostdeutschen politischen Kultur. Man befand sich also in einer sehr interessanten Lage, in der jedes Lager dem anderen vorwarf, den Glauben an die Zukunft verloren zu haben und folglich an Legitimität eingebüßt zu haben.

Der Dresdner Kulturpalast wurde nach Sanierung 2017 mit einem Konzert der Dresdner Philharmonie neu eröffnet.

© dpa/Oliver Killig

Zurück zum – ebenfalls nostalgiebehafteten – Palast. Es gab mal die Idee eines Hybridgebäudes aus Palast und Schloss, ein Modell ist in der Ausstellung zu sehen. Wäre eine solche Lösung besser gewesen?
Es ist schwer zu sagen, was besser gewesen wäre. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die architektonische Neugestaltung Berlins nach 1990 eine spannende Chance zur Erneuerung bot, die ungenutzt blieb. Ob man das neu-alte Schloss liebt oder den Palast vermisst – das hängt stark von persönlichem Geschmack und eigenen Erfahrungen ab. Objektiv betrachtet kann es hier keine richtige oder falsche Meinung geben. Doch die Tatsache, dass sich die Debatten oft auf eine binäre Entscheidung zwischen Palast und Schloss verengt haben und dadurch andere Möglichkeiten für den Ort verdrängt wurden, ist bedauerlich.

Wie sollte denn an den Palast erinnert werden?
Meiner Meinung nach ist das Beste, worauf man heute hoffen kann, dass man diesen Ort auch als solchen – das heißt, als Ort – versteht und nicht allein durch die Linse des Gebäudes, das ihn bewohnt. Denn dieser Ort ist von besonderer Bedeutung und ein Beispiel dafür, wie palimpsestisch die Geschichte eines Ortes sein kann, wie er immer wieder aufs Neue beschrieben wird. Er zeigt auf besonders dramatische Weise, wie schnell sich der „Inhalt“ eines Ortes ändern kann, ohne dass seine allgemeine Bedeutung und Wichtigkeit infrage gestellt werden. Ich glaube, es ist wichtig, dass die historische Mannigfaltigkeit eines Ortes nicht vergessen oder verdrängt wird.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

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