
© dpa/AP/MARK TERRILL
Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin: Wie Claude Lanzmann seinen Film „Shoah“ vorbereitete
40 Jahre nach der Uraufführung beleuchtet eine Schau den Entstehungsprozess des epochalen Films anhand von Tonaufnahmen. Ein Gespräch mit Kuratorin Tamar Lewinsky.
Stand:
Claude Lanzmann wäre am 27. November 100 Jahre alt geworden. Sie haben zu diesem Anlass die Schau „Claude Lanzmann. Die Aufzeichnungen“ kuratiert. Wenn Besucherinnen und Besucher die Ausstellung betreten, was erwartet sie zuerst?
Das Jüdische Museum Berlin nimmt den 100. Geburtstag von Claude Lanzmann zum Anlass, einen außergewöhnlichen Bestand aus seiner Sammlung vorzustellen: rund 220 Stunden Tonaufnahmen, die Lanzmann während Vorbereitungen zu seinem Film „Shoah“ gemacht hat. Uns geht es um die lange Vorrecherche, die Lanzmann 1973 begann und die bis zu den Dreharbeiten Ende der 1970er-Jahre gedauert hat.
Es ist in erster Linie eine Audioausstellung – für uns ein Experiment, weil wir bislang nie eine Schau konzipiert haben, die sich vornehmlich auf das Hören konzentriert. Besucherinnen und Besucher erhalten einen Kopfhörer und bewegen sich frei durch einen offenen Raum, in dem über eine Bodengrafik verschiedene Hörbereiche markiert sind.
Welche Bedeutung hat Lanzmanns Film „Shoa“ aus heutiger Sicht?
„Shoah“ ist ein zentraler Beitrag zur filmischen Darstellung des Holocaust. Lanzmann verzichtet konsequent auf Archivmaterial, weil er keine Täterperspektiven reproduzieren will. Stattdessen konzentriert er sich auf Zeugnisse und Orte. Er hat die Vernichtung in den Vernichtungslagern ins Zentrum gerückt und die Zeugen sprechen lassen, die dem Geschehen am nächsten gekommen sind. Zugleich zeigt er die Orte selbst als „Nicht-Orte der Erinnerung“ – Stätten, an denen kaum noch etwas sichtbar ist.

© Jüdisches Museum Berlin, Foto Roman März
Was verraten die Tonaufnahmen über Lanzmanns Arbeitsweise?
Sie zeigen, dass Lanzmann zunächst kein fertiges Konzept hatte. Er wusste, dass er sich auf ein äußerst schwieriges Unterfangen einließ, und arbeitete sich Schritt für Schritt heran. Seine Recherchen waren enorm breit: Er befasste sich intensiv mit dem Holocaust in Litauen, mit der Flüchtlingspolitik der Schweiz, der Rolle des Vatikans oder der Frage, wieso andere Staaten nicht eingegriffen haben.
Vieles davon fand später keinen Eingang in den Film. Beeindruckend ist, wie akribisch sich Lanzmann vorbereitete – er studierte Prozessakten, sprach mit Historikern, sichtete Quellen. Gleichzeitig zeigen die Aufnahmen, wie er Täter zum Sprechen brachte, oft mit verstecktem Mikrofon. Seine Mitarbeiterinnen Corinna Coulmas und Irena Steinfeldt-Levy gingen von Tür zu Tür, klingelten, baten um Gespräche. Nicht selten hört man, wie eine Tür wieder zufällt.
Sie mussten aus 220 Stunden Tonmaterial eine Auswahl treffen. Nach welchen Kriterien sind Sie vorgegangen?
In der Ausstellung sind insgesamt etwa 90 Minuten zu hören. Entscheidend war, welche Themen sich mit relativ wenig Kontextinformation vermitteln lassen und repräsentativ für Lanzmanns Methode sind. Auch die Tonqualität spielte eine Rolle – wir haben Kassetten aus den 1970er-Jahren digitalisieren lassen, deren Zustand sehr unterschiedlich war. Manche Aufnahmen sind zu verrauscht oder zu leise. Andere wiederum leben gerade von ihrer Unmittelbarkeit: dem Klirren einer Tasse, einem Husten, dem Anzünden einer Zigarette.
Wie ist die Ausstellung aufgebaut?
Sie besteht aus sechs Kapiteln. Zunächst hört man Lanzmann selbst, wie er mit seinen Gesprächspartnern über sein Projekt redet – was es für ihn bedeutet, in finanzieller, methodischer und psychologischer Hinsicht. Im zweiten Kapitel kommen Gesprächspartner zu Wort, die er später nicht gefilmt hat, weil sie abgesagt haben. Es folgt ein Kapitel über die Täter und wie sie ihr eigenes Tun reflektiert oder eben nicht reflektiert haben und wie Lanzmann sie zum Sprechen gebracht hat.
Das vierte Kapitel widmet sich dem Holocaust in Litauen, stellvertretend für die vielen Forschungsthemen, die letztlich nicht in den Film gekommen sind. Für die Sowjetrepublik Litauen hatte Lanzmann nach den Vorrecherchen keine Drehgenehmigung erhalten.
War das in Polen einfacher?
Ja, dennoch hat Lanzmann mit der Reise nach Polen bis 1978 gewartet. Um die Reise dorthin geht es im fünften Kapitel. Hier haben wir viele Aufnahmen, wie Lanzmann Orte besucht und mit Zeitzeugen spricht. Wir haben auch eine sehr intensive Szene, wo man Lanzmann bei seinem ersten Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau hört. Im sechsten Kapitel unserer Ausstellung werden dann ausgewählte Tonaufnahmen und Filmaufnahmen aus dem Rohmaterial miteinander kombiniert.
Verzichten Sie komplett auf schriftliches Material?
Nicht ganz, begleitend zu den Audioaufnahmen zeigen wir Originaldokumente, die Lanzmanns Witwe Dominique Lanzmann dem Jüdischen Museum Berlin als Leihgabe zur Verfügung stellt. Um das Hören nicht zu überlagern, befinden sich die Vitrinen in einem separaten Bereich.

© Foto: Roman März
Wie vermitteln Sie das Thema Erinnerung an jüngere Generationen?
Wir bieten Workshops für Schulklassen an, in denen Lanzmanns Tonaufnahmen im Mittelpunkt stehen. Parallel gibt es eine digitale Lerneinheit mit einem Animationsfilm über Lanzmann und seine Vorarbeiten zu „Shoah“. Damit wollen wir über Fragen von Erinnerung und Zeitzeugenschaft sprechen – gerade in einer Zeit, in der kaum noch Überlebende selbst berichten können.
Was ist darüber hinaus noch geplant?
Wir arbeiten an einer digitalen Edition des gesamten Audiobestands: Bis 2027 sollen alle 220 Stunden online zugänglich sein – mit Transkriptionen, Übersetzungen und Kontextinformationen. Die Ausstellung ist damit Teil eines größeren Forschungsprojekts.
Welche Audioaufnahmen haben Sie persönlich besonders bewegt?
Ich bin immer wieder neu gefangen, manchmal nur von kurzen Sequenzen, die dann sehr viel auslösen, gerade durch die Unmittelbarkeit der Aufnahmen. Es sind eben nicht diese formal geführten Interviews, wie wir sie heute kennen, sondern es sind sehr private Einblicke. Lanzmann wollte herausfinden, welche Geschichten er später filmen könnte. Es sind Rechercheinterviews, die nie für die Öffentlichkeit bestimmt waren.
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