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Ansicht von Chemnitz, der Kulturhauptstadt Europas 2025

© Ernesto Uhlmann

Wo der Nischl wohnt: Das sind Europas Kulturhauptstädte 2025

Chemnitz ist Sachsens große Unbekannte. Ein Grund mehr, sich die Stadt anzusehen, die 2025 Kulturhauptstadt Europas sein wird – zusammen mit Nova Gorica in Slowenien.

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Ab hier geht’s bergauf: Wer durch die südlichen Stadtteile von Chemnitz fährt, immer am gleichnamigen, weißgurgelnden Fluss entlang, der gelangt schnell an den Fuß des Erzgebirges. Würde man noch ein bisschen weiterfahren, kämen nach einer Stunde der Fichtel- und Keilberg in den Blick, der eine in Deutschland, der andere in Tschechien, beide rund 1200 Meter hoch.

Nicht schlecht, oder? Chemnitz ist auch topographisch interessant, das hat man außerhalb Sachsens nicht wirklich auf dem Schirm, so wie eigentlich die ganze Stadt nicht. Obwohl sie die drittgrößte des Bundeslandes ist. Der monumentale Karl-Marx-Kopf des Bildhauers Lew Kerbel, 1971 eingeweiht und von den Einheimischen „Nischl“ genannt, dürfte manchen noch ein Begriff sein. Mehr aber auch nicht.

Mit dem Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“ könnte sich das ändern – passenderweise lautet das Motto: „C the Unseen“. Und es ist ja gerade auch Sinn dieser Auszeichnung, eher unbekannten Orten und Regionen mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Zu Beginn war das noch anders, da durften sich das sattsam bekannte West-Berlin (1988) und Weimar (1999) Kulturhauptstadt nennen, 2010 dann Essen und das Ruhrgebiet. Chemnitz ist jetzt die vierte deutsche Stadt, die diesen Titel trägt.

In Chemnitz die Arbeit

Historisch gesehen war die Aufteilung in Sachsen so: in Dresden der Hof, in Leipzig der Handel, in Chemnitz die Arbeit. Hier entwickelte sich im 19. Jahrhundert einer der bedeutendsten Industriestandorte Deutschlands, was natürlich auch mit dem nahegelegenen Bergbau zu tun hat. Vor allem der Maschinenbau war hier stark, und wer auf eine Eisenbahnkarte des Deutschen Reiches um 1900 blickt, der sieht sofort, dass nirgendwo die Netzdichte höher war in Sachsen rund um Chemnitz.

Karl-Marx-Monument von Lew Kerbel in Chemnitz, von den Einheimischen „Nischl“ genannt.

© Ernesto Uhlmann

Auch die Zugverbindungen ins nahe Böhmen waren exzellent – der als literarischer Chronist mitteleuropäischer Eisenbahngeschichte bekannt gewordene Schriftsteller Jaroslav Rudiš schreibt: Dass sich Böhmen und Sachsen so nah waren, sähe man auch daran, dass für viele deutsche Städte tschechische Namen existieren. Chemnitz heißt in Tschechien Saská Kamenice („Sächsisch Kamnitz“), das Wort kámen bedeutet Stein. Da ist er wieder, der Bergbau.

Ab 1953 hieß Chemnitz Karl-Marx-Stadt

Behördlicherseits bekam die Stadt ab 1953 und bis 1990 den Namen „Karl-Marx-Stadt“ verordnet, obwohl der Autor des „Kapitals“ nie hier gewesen war, da lägen Trier (wo er geboren wurde) oder London (wo er starb) näher. Otto Grotewohl fand aber trotzdem einen Grund, Chemnitz so zu nennen: Damit würde man Bezug nehmen auf die Tradition der starken Arbeiterschaft.

Diese industrielle Vergangenheit spiegelt das kommende Kulturjahr natürlich wider. Als zentrales Besuchs- und Informationszentrum fungiert die umgestaltete ehemalige Hartmannfabrik, in der einst Lokomotiven zusammengeschraubt wurden. Rund 30 solcher „Interventionsflächen“ sollen im Stadtgebiet nachhaltige Spuren hinterlassen.

Fünf große Leitlinien, von den Machern „Dimensionen“ genannt, werden das Programm prägen, darunter „Osteuropäische Mentalität“, „Nachbarschaft, Respekt, Toleranz“ oder „Demokratie, Partizipation, gesellschaftlicher Zusammenhalt“ – besonders wichtig in einem Land, in dem die mit Hass und Ausgrenzung Wählerstimmen sammelnde AfD enorm stark ist – auch wenn bei der jüngsten Landtagswahl in Chemnitz selbst andere Parteien vorne lagen, wie übrigens auch in Leipzig und Dresden.

Am 18. Januar geht es los

Startschuss für das Kulturjahr soll der 18. Januar sein, mit einem Fest und – ja, trotz der Jahreszeit – einer Open-Air-Gala. Die großen Museen sind alle beteiligt, so das Staatliche Museum für Archäologie mit der Ausstellung „Silberglanz und Kumpeltod“ zur Geschichte und Gegenwart des Bergbaus in der Region.

Das Industriemuseum Chemnitz vergleicht in „Tales of Transformation“ ehemalige Industriestädte wie das polnische Lodz, Manchester, Mülhausen im Elsass, Tampere in Finnland und eben Chemnitz. Und die Kunstsammlungen am Theaterplatz widmet sich dem Norweger Edvard Munch, der 1905 einige Wochen in Chemnitz lebte, um Mitglieder der Familie von Herbert Eugen Esche zu malen – deren Nachfahren übrigens immer noch in der Stadt leben.

Apropos Theaterplatz: Der gesamte Spielplan der Chemnitzer Theater wird ebenfalls auf das Kulturhauptstadtjahr ausgerichtet sein, mit einem Höhepunkt im Juni, wenn auf dem Theaterplatz zwei Wochen lang Sommerkonzerte erklingen: eine italienische Opernnacht, symphonischer Swing oder Filmmusik. Außerdem kooperiert das Haus mit den drei anderen Theatern der Region in Plauen, Freiberg und Annaberg-Buchholz mit insgesamt vier Premieren.

Region ist das Stichwort: Jede Kulturhauptstadt Europas muss immer auch das Umland miteinbeziehen, nicht nur die Zentralstadt, das schreiben die Regularien vor. Dieser Verzahnung dient vor allem der Kunst- und Skulpturenpfad „Purple Path“, der in fast 40 Ortschaften Werke internationaler Künstler präsentiert und neue Perspektiven auf Dörfer, Gebäude, Plätze ermöglicht.

Die Skulptur „Twister Again“ von Alice Aycock in Seiffen gehört zum Skulpturenpfad „Purple Path“.

© Ernesto Uhlmann

Den Zuschlag für den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ bekam Chemnitz übrigens 2020, Mitbewerber in Deutschland waren Nürnberg, Hannover, Magdeburg und Hildesheim. Die Wahl war damals nicht ganz unumstritten, vor allem die Süddeutsche Zeitung warf der Jury vor, ein internationales Netzwerk zu bilden, das an die Fifa oder das IOC erinnere und in dem immer dieselben Experten, Berater und Kulturmanager tätig seien.

Nova Gorica ist die zweite Stadt im Bunde

Diese Verwerfungen sind inzwischen geglättet, sodass sich Chemnitz im kommenden Jahr einer europäischen Öffentlichkeit präsentieren kann – gemeinsam mit Nova Gorica in Slowenien, denn auch das sehen die Regularien vor: Es müssen immer zwei oder (wie 2024) sogar drei europäische Städte sein.

Nova Gorica ist eine Planstadt wie Wolfsburg oder Eisenhüttenstadt, es entstand erst ab 1948 und liegt unmittelbar an der Grenze zu Italien, zur Schwesterstadt Gorizia (deutsch Görz), die ebenfalls Kulturhauptstadt sein wird.

Die Salcanobrücke (im Vordergrund) überspannt den Fluss Soča bei Nova Gorica in Slowenien. Sie gilt als die größte gemauerte Eisenbahn-Bogenbrücke der Welt.

© Adobe Stock

Bei dieser geografischen Situation bietet es sich natürlich an, ein Kulturprogramm unter dem Titel „Borderless“ zu gestalten, das mit Grenzen und ihrer Überschreitung spielt. Die Region prunkt auch mit Bauten wie der Salcanobrücke, die die größte gemauerte Eisenbahnbrücke der Welt sein soll und den Fluss Soča überquert, der sich aus den Julischen Alpen kommend türkisblau durch ein nach Süden geöffnetes, sonniges Tal schlängelt, bevor er unter dem Namen Isonzo in Italien in die Adria mündet.

Wer jetzt sagt: „Das will man doch mal sehen!“, der hat bereits den tieferen Sinn des Kulturhauptstadttitels verstanden, nämlich interessante Orte außerhalb der ausgetretenen Reiserouten zu entdecken.

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