
© Oliver Gerhard für den Tagesspiegel
Zwischen Nationalpark und Platte: Warum Schwedt mehr ist als eine Industriestadt
Schwedt steht für Energieunternehmen und russisches Öl. Doch wer sich auf die Stadt an der Oder einlässt, entdeckt Fassadenkunst, Backsteindenkmäler und die wilde Natur der Flussauen.
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Stahl und Beton, Backstein und Rost: Schwedts Wahrzeichen besteht aus Industriehallen und Kühltürmen, Rohren, Leitern und Treppen. Rauch quillt unablässig aus einigen der rund zwei Dutzend Schornsteine der PCK-Raffinerie, die schon von Weitem zu sehen sind. An manchen Tagen lodern Flammen auf den Fackeltürmen, wenn überschüssige Gase verbrannt werden.
Die größte ostdeutsche Erdölraffinerie hat der 34.000-Einwohner-Stadt seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine nur negative Schlagzeilen beschert – und auch davor schlummerte Schwedt fernab des Uckermark-Hypes vor sich hin. Dabei hätten die Einwohner eigentlich Grund zum Feiern: Vor genau 60 Jahren sprudelte im Beisein von Walter Ulbricht das erste russische Öl durch die Pipeline „Druschba“ – Freundschaft.
DDR pur, das ist der erste Eindruck in Schwedt: die Anlagen des ehemaligen Kombinats, die breiten Betonpisten à la Moskau oder Ost-Berlin, die endlosen Reihen uniformer Plattenbauten. Doch dazwischen leuchten schrille Farben: quietschbunte Balkone, wandfüllende Gemälde und Fassaden in Feuerrot, Barbiepink, Ozeanblau oder Giftgrün. Das Grau der Vorwendezeit: wie weggeblasen.

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„Nein, eher weggesprayed! Ich bin selbst erstaunt, wie sehr Schwedt sich entwickelt hat“, sagt Marco Brzozowski, während er mit der Sprühdose ein Kunstwerk bearbeitet: zwei Musiker mit Gitarre und eine Frau am Keyboard. Die Szene verwandelt ein schlichtes Trafohäuschen in einen bunten Hingucker. „Als ich mich 2007 als Fassadenmaler selbstständig machte, dachte ich zuerst an Schwedt als potenziellen Kunden.“
Seitdem hat er im Auftrag der Wohnungsbaugesellschaft und der Stadtwerke viele Gebäude verwandelt – darunter über 1000 Quadratmeter große Fassaden, für die Hunderte Farbdosen zum Einsatz kamen. „Bei so großen Objekten benutze ich das Gerüst als Raster und prüfe den Fortschritt ab und zu aus der Ferne“, sagt der Künstler, bevor er wieder seine Kopfhörer aufsetzt: „Ein 60-Stunden-Hörbuch! Darin ,lebe’ ich immer, wenn ich tagelang nur spraye.“
Die Affinität der Schwedter zur Kunst im öffentlichen Raum ist kein Produkt der Nachwendezeit: „In den 60er- und 70er-Jahren stand dafür viel Geld zur Verfügung“, erklärt Stadtführerin Gudrun Eger. „Bis zu zwei Prozent der Bausummen waren reserviert.“ Und gebaut wurde viel: Dank der Industriekombinate explodierte die Einwohnerzahl von 6000 im Jahr 1957 auf über 50.000 in den 1980ern.

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Auch Gudrun Eger zog damals hierher: „In anderen Orten musste man viel länger auf eine Wohnung warten“, sagt sie. Viele Künstler blieben in der Stadt, die ihnen so viele Aufträge bescherte, darunter der Bildhauer Axel Schulz (1937-2012), der in seinen Arbeiten den Alltag der Schwedter einfing: Liebespaare, harte Arbeit, Kanutouren und FKK. „Ich mag die Art, wie stolz und selbstbewusst er die Mädchen zeigte“, sagt Eger.
Eigentlich wird die Stadtführerin für klassische Rundgänge gebucht, aber sie schmuggelt immer auch Kunst mit ins Programm – ihre Leidenschaft: Wandbilder, Mosaike, Reliefs, Skulpturen und Brunnen. Eines der faszinierendsten Werke der Ost-Moderne ist der „Kosmonaut“, ein Glasmosaik in leuchtenden Farben, das die gewünschte Aufbruchstimmung jener Zeit symbolisiert.

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Wer aus Berlin zu Besuch kommt, staunt erst mal über die Sauberkeit: keine wilden Graffitis, keine Schmierereien, nicht einmal Tags. „Nein, etwas Illegales haben wir hier nicht“, sagt Gudrun Eger.
„Unsere Fassadenbilder sind Auftragsarbeiten.“ Dabei lernen in Schwedt schon die Kinder, wie man Wände bemalt: Im Gründerzeitbau der Grünen Villa sorgt das Kollektiv „Kunstbanausen“ für frischen Wind.
Leokadia Hateville – mit ihrem Pseudonym, Tattoos und stylishem Outfit selbst eine Kunstfigur – veranstaltet mit ihrem Kompagnon Stefan Lange Graffiti-Workshops für Kids: „Am meisten fesselt es die Jugendlichen, die sich erst einmal gar nicht dafür interessieren – die vordergründig lauten und frechen“, sagt Hateville. „Sie lernen dabei nicht nur ein Handwerk, sondern auch, wie im Team Schritt für Schritt etwas Großes entsteht.“

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Die Fassadenmalerei ist der Brot-und-Butter-Job der „Kunstbanausen“: „Als Künstlerin bleibt man dabei fast unsichtbar, obwohl man so viel Zeit mit dem Objekt verbringt. Irgendwann ist es einfach da – und spätestens nach zehn Jahren fängt es schon wieder an zu bröckeln“, sagt Hateville. Ihre Leidenschaft gilt daher freien Arbeiten, Airbrush, Pin-Stripping, Bühnenmalerei – und Autorennen.
Eine Stadt ohne Mitte
Doch wo schlägt das Herz der Stadt, die in den letzten Kriegstagen mitsamt ihrem historischen Schloss weitgehend zerstört wurde? Amtsgericht, jüdisches Ritualbad, Stadtkirche … nicht viele historische Gebäude blieben im Zentrum erhalten. Die Fußgängerzone ist verwaist, wenn nicht gerade ein paar Kinder im Brunnen vor der Tourist-Info toben. „Zu-Vermieten“-Schilder hängen in leeren Schaufenstern.

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Auch das Kaufhaus Centrum, zu DDR-Zeiten ein Besuchermagnet, hat seine Anziehungskraft längst eingebüßt – immerhin steht es wegen seiner emblematischen Lamellenfassade der Ost-Moderne unter Denkmalschutz. Ein paar Senioren marschieren zielstrebig durch die Betonwüste, Schilder werben: „Pflege ist Vertrauenssache.“ Der Altersdurchschnitt in Schwedt liegt heute bei 52 Jahren, einst war es die jüngste Stadt der DDR.
Nach der Wende wurden Tausende Wohnungen abgerissen, die verbliebenen hat man modernisiert, mit Aufzügen, größeren Balkonen und mehr Grün. Das Leben spielt sich hier in der Platte ab, im Privaten.
Tabakpflanzen wie im Osten Kubas
Der wirtschaftliche Puls Schwedts schlug dagegen mehr als 300 Jahre lang in den gigantischen Backsteinpalästen, die bis heute erhalten blieben: Tabakfabriken und Trockenscheunen.
Der Ortsteil Vierraden liegt eingebettet in Felder mit Tabakpflanzen – ein Anblick wie im Osten Kubas. „Unsere hugenottischen Vorfahren haben einst das Wissen dafür mitgebracht“, sagt Margit Fischer, eine geborene Menanteau. Das französische Erbe ist noch in vielen Begriffen wie Planteur (Tabakpflanzer) oder Bandelier (Schnur zum Auffädeln der Tabakblätter) präsent.

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Dennoch bleibt auch etwas Wehmut: Beim Aufziehen der Blätter auf die Schnüre zum Trocknen saßen vier Generationen zusammen in der Scheune. „Es gab Kaffee und Kuchen und später auch ein Eierlikörchen“, sagt Fischer.
„Wir liebten das als Kinder, weil dabei erzählt, getratscht, gesungen und gut gegessen wurde. Unsere Ferien waren damit gefüllt – denn wenn mal keine Arbeit war, schickte unsere Mutter uns zu Nachbarn zum Helfen.“

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Heute nimmt Fischer an einem Zeitzeugenprojekt des Tabakmuseums in Vierraden teil, und einmal im Jahr treffen sich die einstigen „Planteure“ zum Tabakblütenfest. Dann holen Margit Fischer und ihr Mann die hugenottischen Trachten aus dem Schrank und fädeln noch einmal Blätter auf: zum Stillen der Wehmut – und um zu sehen, ob sie es noch beherrschen.
Ein Fischer im Nationalpark Unteres Odertal
Im Osten grenzt Schwedt unmittelbar an den Nationalpark Unteres Odertal, das Revier von Lutz Zimmermann, einem von zwei verbliebenen Fischern in der Region. „Ich habe diese Berufswahl nie bereut“, erzählt er auf seinem Wassergrundstück unter dem Laubdach der Weiden. „Aber heute muss man schon ein Enthusiast sein, um diesen Job noch zu ergreifen.“
Die Umorientierung nach der Wende, sinkende Fischbestände, der Klimawandel oder die Umweltkatastrophe 2022 haben ihn immer wieder gefordert.

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Bis zu seiner Rente darf Zimmermann noch in der Kernzone des Nationalparks fischen, danach gilt dort nur noch Naturschutz. Auf seiner Liste stehen Hechte, Welse, Aale und Zander. „Im Sommer ist dagegen Saure-Gurken-Zeit“, sagt der 58-Jährige. „Dann habe ich Zeit für die Störe.“ Rund 30.000 Jungstöre wachsen in seinem Zuchtcontainer auf – in Wasser aus der Oder, damit sie die heimatlichen Gewässer später wiedererkennen.
Zimmermann ist eingebunden in ein Projekt zur Wiederansiedlung des Baltischen Störs. „Die ersten Wochen im Juli sind besonders arbeitsintensiv“, sagt er. „Dann füttern wir die Jungstöre rund um die Uhr mit frischen Krebslarven.“ Die ersten Rückkehrer erwartet er in ein paar Jahren. Wilderer werden es dann schwer haben, unauffällig Störe zu stehlen, sagt Zimmermann: „Die Tiere sind dann schon mindestens zwei Meter lang.“

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Im Poldergebiet zwischen der Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße und der Strom-Oder erstreckt sich heute eine der letzten naturnahen Flussauen Europas – Rast- und Brutplatz Zehntausender Enten, Gänse und Wasservögel. Der Mensch ist hier nur geduldet: „Wir dürfen erst nach Ende der Brutzeit Mitte Juli paddeln gehen“, sagt Thomas Volpers, der seit 15 Jahren Touren in die Schwedter Polder führt.
Schon wenige Meter hinter den Deichtoren zum „Zwischenoderland“ ist die Stadt vergessen: Der Wind rauscht im vier Meter hohen Schilf, Biber haben riesige Burgen errichtet, von den Seerosenblättern flüchten Frösche ins Wasser.

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Volpers zeigt auf die vielen bunten Gewächse am Rand der Strecke: Schwanenblume und Blutweiderich, Wasserminze und Sumpf-Vergissmeinnicht. Immer enger rücken die „lebenden Wände“ zusammen, Schilf streift die Köpfe der Paddler. Der Teppich aus Wasserfarn und Entengrütze wird zeitweise so dicht, dass aus dem Paddeln ein Staken wird.
Dann geht gar nichts mehr: Ein umgestürzter Baum blockiert die Strecke. Volpers zückt eine Säge und räumt den Weg wieder frei, unter Schieben und Ziehen rutscht das Kanu über die blockierte Stelle.

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Später, beim Picknick unter einer alten Weide, fördert der Guide zutage, was er unterwegs in einer Dose gesammelt hat: Sumpfdeckelschnecken, Libellenlarven, Schwimmwanzen und Wasserasseln. Viele Tiere hätten ausgefallene Techniken zum Überleben entwickelt, erklärt er. Zum Beispiel die Wasserspinne: „Sie sucht für ihre Eier gerne ein ausgedientes Schneckenhaus. Dort trägt sie Luft herein, sodass es zu einer kleinen Taucherglocke unter Wasser wird.“
Nach ein paar Stunden auf dem Wasser, ohne Autolärm, Hundegebell oder Begegnungen mit anderen Paddlern, hat man das Gefühl, in einer abgelegenen Wildnis am Ende der Welt unterwegs zu sein. Doch dann öffnet sich plötzlich ein Fenster im Dickicht, durch das ein paar Kühe neugierig ihre Köpfe strecken.
Und am Horizont ragen die Schornsteine der Raffinerie auf – das vertraute Wahrzeichen, in greifbarer Nähe.
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