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Menschen räumen nach russischen Drohnenangriffen Trümmer vor einem beschädigten Regierungsgebäude weg.

© dpa/Jae C. Hong

Ukraine-Invasion Tag 526: Bericht aus Kiew nach einer schlaflosen Nacht

Pistorius will keine Marschflugkörper liefern, Himars-Angriff tötet wohl Dutzende russische Soldaten, Moskau wirbt Soldaten in Kasachstan an. Der Überblick am Abend.

Stand:

Die Hauptstadt Kiew war die zweite Nacht in Folge Ziel von russischen Drohnenangriffen. Die Journalistin Valeriia Semeniuk beschreibt, wie die Bewohner der Stadt reagieren:

Schlaflose Gesichter, unglückliche Blicke. Im Innenhof eines typischen fünfstöckigen Hauses tauschen die Nachbarn ihre Erlebnisse der vergangenen Nacht aus. ´Heute war es im Keller sehr voll, 15 Leute sind gekommen´, sagt einer von ihnen. Die Bewohner dieses Hauses haben Glück: Es gibt Schutzräume in zwei Eingängen. In anderen Häusern gibt es keine. Die zweite Frau erzählt, dass sie und ihr Mann in dieser Nacht den Flur als Schutzraum gewählt haben: Sie haben den Beginn des Luftangriffs verschlafen, und als sie von den Explosionen aufgewacht sind, wollten sie nicht mehr vor die Tür gehen.

Der Flur und das Badezimmer gelten als die sichersten Orte in einer Wohnung. Sie sind so weit wie möglich von den Außenwänden eines Hauses mit Fenstern entfernt. Dies wird als `Zwei-Wände-Regel` bezeichnet, und selbst kleine Kinder haben sie gut gelernt. Es ist unwahrscheinlich, dass sie funktioniert, wenn die Rakete direkt in das Haus einschlägt. Aber sie wird Ihnen helfen zu überleben, wenn ein Teil einer Rakete oder Drohne vom Himmel fällt und von der Luftabwehr abgeschossen wird. Und auch, wenn eine Explosionswelle die Fenster zerschlägt.

Besonders betroffen sind die Stadtteile am Rande Kyjiw auf beiden Seiten des Flusses Dnipro. Schließlich fliegen die Raketen und Drohnen oft entlang des Flusses. Und dort versucht die Luftabwehr auch, sie abzuschießen. Gelingt das nicht, passiert es näher am Zentrum. Seit Beginn der umfassenden Invasion sind bei Luftangriffen 170 Einwohner getötet worden, 50 davon im Jahr 2023. Der neueste Alarm dauerte drei Stunden und war der 820. seit Beginn der russischen Invasion.

Der Durchschnittsbürger hat mehrere öffentliche und private Telegram-Kanäle abonniert, die ihn umgehend über die Bedrohungslage informieren. Ein Beispiel für eine Nachricht: : `11.30. Bis 17.00 Uhr können Sie in aller Ruhe Ihren Geschäften beiwohnen. Der TU-Bomber ist in Murmansk gestartet, der ungefähre Zeitpunkt des Raketenabschusses vom Kaspischen Meer - in 5-6 Stunden`. So lange braucht ein Flugzeug, um von einem Militärstützpunkt im hohen Norden Russlands zum Kaspischen Meer zu fliegen. Und alle Kyjiwer Bürgerinnen und Bürger wissen bereits: Wenn die Raketen abgefeuert werden, brauchen sie noch etwa anderthalb Stunden, um in die Hauptstadt zu fliegen. Dann ist es an der Zeit, über Sicherheitsmaßnahmen nachzudenken. Feuert ein Mig-Kampfjet seine Raketen unweit der ukrainischen Grenze ab, hat man nur wenige Minuten, um sich in Sicherheit zu bringen.

Das ängstliche Warten wirkt sich negativ auf die Gesundheit der Menschen aus: Viele klagen über chronischen Stress und Müdigkeit. Zwischen den Alarmen geht das Leben in der Hauptstadt jedoch weiter, und es sieht recht friedlich aus. Manchmal wird es durch den Klang des Sommerdonners unterbrochen. Auch darüber informieren Telegramkanäle: „Keine Sorge. Es besteht im Moment keine Gefahr eines Angriffs. Es gibt nur ein Gewitter in Kyjiw. Die Realität ist, dass in dem Moment, in dem eine Luftabwehrrakete eine Drohne am Himmel abschießt, das Geräusch dem Donner sehr ähnlich ist. Die herabfallenden Fragmente ähneln einem Feuerwerk. Aber das kann nicht stimmen: Feuerwerkskörper sind in der Ukraine seit Beginn des Krieges verboten, um die Menschen nicht weiter zu verängstigen.“

Die wichtigsten Nachrichten des Tages:

  • Ukrainische Militäreinheiten sollen russische Truppen auf der besetzten Insel Dscharylhatsch attackiert haben. Das US-Institut ISW bestätigt russische Präsenz auf der Insel. Es soll Dutzende Tote gegeben haben. Mehr hier.
  • Bereits mehrfach hat die Ukraine Angriffe auf russischem Gebiet nahe der Grenze durchgeführt. Moskau wiederum bewaffnet dort nun sogenannte Volksmilizen. Mehr hier.
  • In Kasachstan wird mit umgerechnet 5000 Euro Sofort-Prämie und festen Monatsgehältern zum Beitritt zur russischen Armee geworben. Die von der Nachrichtenagentur Reuters gesichteten Internet-Anzeigen zeigen russische und kasachische Flaggen und den Slogan „Schulter an Schulter“. Sie versprechen im Gegenzug für die Unterzeichnung eines Vertrages beim russischen Militär eine Einmalzahlung von 495.000 russischen Rubeln (knapp 5000 Euro) sowie ein monatliches Gehalt von umgerechnet mindestens 1850 Euro. Mehr in unserem Liveblog.
  • Trotz der russischen Angriffe auf ukrainische Hafen-Anlagen im Donau-Delta erwartet die rumänische Donau-Verwaltung für August eine weitere Rekordzahl an Frachtschiffen. Bereits im Mai und Juni habe es mit jeweils 477 Schiffen Höchstzahlen gegeben. Derzeit warteten nach dem russischen Angriff auf den ukrainischen Hafen Ismajil an der Donau vor wenigen Tagen rund 30 Schiffe in ukrainischen Binnenhäfen auf ihre Fahrt ins Schwarze Meer.
  • Verteidigungsminister Boris Pistorius will nach wie vor keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern. „Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass das jetzt gerade nicht unsere vorrangigste Priorität hat“, sagte der SPD-Politiker am Donnerstag bei seinem Besuch bei der Gebirgsjägerbrigade 23 im bayerischen Bad Reichenhall. Die Bedenken gegen die Lieferung lägen „auf der Hand. Wir sind nicht die einzigen, die nicht liefern. Auch unsere amerikanischen Verbündeten liefern diese Marschflugkörper nicht. Unsere haben eine besondere Reichweite.“
  • Russische Wagner-Söldner wurden nach Einschätzung des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki nach Belarus geschickt, um die Ostflanke der Nato zu destabilisieren. Das würden die Söldner versuchen, erklärt Morawiecki. Sein Land grenzt im Osten an Belarus, weiter nördlich sind Lettland und Litauen direkte Anrainer des Verbündeten von Russland. Polen und die baltischen Staaten gehören der Nato und der EU an. 
  • Der Kreml und das Verteidigungsministerium in Moskau unterbinden weitergehend kritische Äußerungen russischer Militärblogger zum Verlauf des Krieges in der Ukraine. Zu dieser Einschätzung kommen die Experten vom US-Institut für Kriegsstudien (ISW) in ihrem Bericht von Mittwoch. Viele der Blogger, die den Krieg unterstützen, verhielten sich still, übten mehr Selbstzensur und schwiegen zu den „Problemen, die direkt der Militärführung angelastet werden können“.
  • Steigende Kreditvergaben und höhere Margen haben Russlands größtem Geldhaus Sberbank im zweiten Quartal erneut einen Rekordgewinn eingebracht. Der Nettogewinn belief sich auf 380,3 Milliarden Rubel (rund 3,7 Milliarden Euro), wie die Bank am Donnerstag mitteilte. „In diesem Quartal haben wir das höchste Kreditvolumen aller Zeiten vergeben – mehr als 6,6 Billionen Rubel“, sagte Firmenchef German Gref. 
  • Russland setzt Norwegen auf seine Liste mit Ländern, die nach seiner Lesart „unfreundliche Handlungen“ gegen seine diplomatischen Vertretungen begangen haben. Das melden staatliche russische Nachrichtenagenturen. Länder auf dieser Liste dürfen nur eine begrenzte Zahl von örtlichen Beschäftigen einstellen, im Falle Norwegens seien es 27, meldet RIA Nowosti. 
  • Die ukrainische Luftabwehr hat nach eigenen Angaben in der Nacht rund 15 Drohnen abgewehrt, die sich auf Kiew zubewegten. Die ukrainischen Streitkräfte „haben fast 15 Luftziele entdeckt und zerstört“, als diese sich Kiew näherten, erklärte Militärverwaltungschef Serhij Popko am Donnerstag im Onlinedienst Telegram. Er fügte hinzu, es habe sich um Shahed-Drohnen aus iranischer Produktion gehandelt.
  • Die russischen Truppen sind nach ukrainischen Angaben nicht auf dem Vormarsch, sondern haben sich in den von ihnen kontrollierten Gebieten verschanzt und diese vermint. „Der Feind hat sich sehr gründlich auf diese Ereignisse vorbereitet“, sagt der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Oleksij Danilow, im staatlichen Fernsehen. „Die Zahl der Minen auf dem Gebiet, das unsere Truppen zurückerobert haben, ist völlig verrückt. Im Durchschnitt gibt es drei, vier, fünf Minen pro Quadratmeter.“ Das mache es den ukrainischen Truppen schwer, nach Osten und Süden vorzudringen. Der Vormarsch sei langsamer als erhofft, aber man könne nichts überstürzen, weil Menschenleben auf dem Spiel stünden.

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