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Tara Westover verließ mit 17 ihre Familie, um zu studieren. Das habe ihr die Augen geöffnet, sagt sie heute.

© imago/Italy Photo Press

Interview mit Tara Westover: „Meine Kindheit war schwer und wundervoll“

Ihr Vater war ein extremistischer Mormone, der Bruder quälte sie. Diese Geschichte rührte in den USA Millionen. Tara Westover über Literatur als Rettung.

Frau Westover, es gibt ein Foto von Ihnen als kleinem Mädchen, auf dem Sie sehr glücklich aussehen. War das eine Pose?

Ich erinnere mich, dass ich glücklich war, aber nicht, so ausgesehen zu haben. Das Bild wurde aufgenommen, als ich bei meiner Großmutter zu Besuch war. Sie hatte mich in die Badewanne gesteckt und mir später was Nettes von meiner Cousine angezogen. So sah ich sonst nie aus.

Zu Hause bei Ihren Eltern ging es wilder zu. Sie mussten sich nicht waschen, Ihr Vater, ein radikalfundamentalistischer Mormone, verbot Ihnen, zur Schule zu gehen, Ihre Mutter, illegale Hebamme, nahm Sie mit zu Geburten, Ihre Brüder schildern Sie als Rudel Wölfe.

Aber vieles an meiner Kindheit in Idaho war idyllisch! Buck Peak, der Berg, an dem schon mein Vater aufgewachsen war, ist wunderschön. Und Papas Schrottplatz war wie ein Abenteuerspielplatz für uns. Wir hatten Pferde, Ziegen, Schweine, ganz viel Freiraum für Entdeckungstouren, wir konnten einfach Kind sein.

Sie haben einen Bestseller über Ihr Leben geschrieben, der von der angelsächsischen Kritik gefeiert wurde, Ex-Präsident Obama hat die Memoiren als eins von fünf Büchern seines Sommers empfohlen. „Befreit“ liest sich streckenweise wie ein Horrorfilm. Ihr Bruder brennt einmal am ganzen Leib, ein spitzes Eisenteil treibt Ihnen ein Loch ins Bein, dazu kommen schwerste Autounfälle. Und Ihr Vater, der Sicherheitsgurte ablehnte, ließ auch nicht zu, dass die Schwerverletzten behandelt wurden, weder beim Arzt noch im Krankenhaus. Was also war so schön an dem Ort, den Sie mit 17 verlassen haben, um zu studieren?

Auf dem Schrottplatz hatten wir kontinuierlichen Nachschub an zerdepperten Autos. Den Benzintank haben wir rausgenommen, den Wagen zusammengedrückt und das Metall verkauft. Wir haben viel gearbeitet dort, aber auch Spaß gehabt. Die Leute haben die Autos, die sie zu Schrott gefahren hatten, ja nicht unbedingt leer geräumt, sodass wir alles Mögliche darin gefunden haben, Briefpapier, Schmuck. Aber mein Vater hielt nichts von Sicherheitsmaßnahmen. Man rechnete immer damit, dass etwas Schreckliches passiert. In unserer Familie hat sich ständig jemand verletzt, das war ganz normal. Später, an der Uni, erfuhr ich einiges über psychische Krankheiten. Ich vermute, dass mein Dad eine Art von bipolarer Störung hat.

Normal ist das letzte Wort, was einem als Leser Ihrer Kindheitserinnerungen einfällt.

Mein Leben war normal für mich. Es war das einzige, das ich kannte.

Sie schildern die Unfälle in drastischen, blutigen Details. Schmerzen erwähnen Sie kaum.

Ich habe eine hohe Schmerztoleranz entwickelt. Das war einfach die Erwartung: dass das Leben wehtut.

Haben Sie die Erwartung heute noch?

Ja.

Wut scheint der ständige Begleiter Ihrer Jugend gewesen zu sein.

Es gab Zeiten, da war ich permanent wütend – auf mich, meine Eltern, meinen Bruder. Zorn kann etwas Gutes sein. Weil er einen aus Situationen rausholt, die schlecht für einen sind.

Sie haben Wut als positive Kraft erlebt?

Nein, sie ist unangenehm. Sie wächst und wächst, droht irgendwann, alles zu beherrschen. Aber sie dient eben als Selbstschutz. Nachdem ich meine Eltern mit Mitte 20 endgültig verlassen hatte, war ich extrem böse auf sie. Die Wut breitete sich in meinem ganzen Leben aus, erfasste all meine Erinnerungen. Das Buch zu schreiben, hat mir sehr geholfen. Am Ende hatte ich das Gefühl, dass man eine wunderbare Kindheit haben kann – und eine schwere zugleich. Ich konnte einige der schönen Momente zurückgewinnen. Selbst bei meinem Bruder, der sehr gewalttätig war …

… Shawn hat Sie an den Haaren durch die Wohnung geschleift, Ihren Kopf in die Kloschüssel gedrückt, Ihnen das Handgelenk und den Zeh gebrochen, Sie auf dem Parkplatz verprügelt …

... gleichzeitig hat er mir einmal das Leben gerettet, beim Ausreiten, als die Pferde durchbrannten.

Sie sind die Jüngste von sieben Geschwistern. Warum wollten Ihre Eltern so viele Kinder haben?

Für meinen Vater war es Teil seines Glaubens, eine große Familie zu haben.

„Sie sagten, ich sei vom Teufel besessen“

Das Buch Mormon gilt als die "Bibel" der Mormonen.
Das Buch Mormon gilt als die "Bibel" der Mormonen.

© imago/Zuma Press

Ihre Kindheit haben Sie in der Gemeinschaft der Mormonen verbracht. Neben der Bibel gilt das Buch „Mormon“ als heilige Schrift. Geschrieben hat es der amerikanische Gründer Joseph Smith, der fast 40 Frauen hatte. Die Vielehe ist nicht mehr zugelassen, aber bis heute sind Alkohol, Kaffee, Tabak, Einkaufen am Sonntag sowie Sex vor der Ehe verboten. Frauen werden diskriminiert, dürfen keine Führungspositionen in der Kirche einnehmen.

Ich wurde in einer ganz anderen, extremen Version erzogen als die meisten, die wir im Sonntagsgottesdienst trafen, die viel mehr mainstreamamerikanisch waren. Zu Hause wurde mir erklärt, dass die anderen falsch lebten, Heiden seien.

Haben Sie noch etwas für das Mormonentum übrig?

Es sind gute Leute. Einige ihrer Lehren sind wunderschön, was Hoffnung betrifft, den Glauben an eine bessere Welt, den Wert von Menschen und wie wir miteinander umgehen sollten. Anderes gefällt mir nicht – was Frauen und die Rolle der Geschlechter angeht.

Gehen Sie noch zur Kirche?

Nein.

Sind Sie gläubig?

Nein.

Haben Sie an Gott geglaubt, als Sie kleiner waren?

Auf jeden Fall.

Ihre Mutter ging davon aus, dass Sie als Erste die Familie verlassen würden. Waren Sie als Kind schon so unabhängig?

Das waren wir alle. Wir haben viel Zeit auf dem Berg verbracht. Über den Buck Peak hat mein Dad uns schöne Geschichten erzählt, er nannte ihn „die Indianerprinzessin“. Das Bild einer Frau sei regelmäßig darauf erschienen, die Prärie-Indianer hätten auf diesen Anblick gewartet, als Zeichen, dass der Frühling kommt. Als ich wegging, hat sich das Mythische des Bergs noch verstärkt. Weil ich ihn verloren hatte.

Im Laufe der Jahre entwickelte sich Ihr Vater vom Geschichtenerzähler zum Extremisten.

Meine älteren Brüder ließ er noch zur Schule gehen, als sie klein waren. Sie kamen auch ganz normal im Krankenhaus zur Welt, während ich nicht mal eine Geburtsurkunde hatte. Er hat immer radikalere Vorstellungen entwickelt – dass Ärzte Teil der Illuminati seien und versuchten, Menschen etwas zuleide zu tun. Wer Schmerzmittel nehme, dessen Verbindung zu Gott werde unterbrochen. Staatliche Schulen seien ein Trick der Regierung, um die Kinder von Gott wegzuführen.

Als Teenager wollten Sie nicht mal mit Ihrem Freund über Ihre Familie reden – und jetzt erzählen Sie der ganzen Welt von ihr. Warum haben Sie sich dazu entschlossen, das Buch zu schreiben?

Nach dem Entschluss, meine Familie zu verlassen, habe ich mich sehr allein gefühlt. Ich dachte, ich bin der einzige Mensch, dem das passiert. Später habe ich gemerkt, dass das gar nicht stimmt. Ich hätte mir gewünscht, dass es mehr Geschichten gegeben hätte über die Entfremdung von der eigenen Familie. Wenn es welche gab, waren die Leute meist schon älter, nachdem das Ganze sich beruhigt hatte, die Eltern tot waren. Aber das ist was anderes. Was diese Entfremdung so hart macht, ist die Tatsache, dass man nicht weiß, wie alles endet.

Der endgültige Bruch mit Ihren Eltern kam sehr spät, als Sie schon promovierten. Wieso haben Sie so ausdauernd festgehalten?

Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass die Verpflichtung gegenüber der Familie ihre Grenzen hat. Dass es Situationen gibt, in denen man sich selbst wählen darf, sein eigenes Glück und Wohlbefinden und seine Sicherheit. Selbst wenn man damit anderen wehtut. Als ich meine Eltern mit der Gewalt meines Bruders Shawn konfrontierte, wollten sie es nicht hören. Sie sagten, ich sei vom Teufel besessen.

Sie haben es geschafft, am College angenommen zu werden, wussten aber nicht mal, was der Holocaust ist. Was hat Sie bewogen, Historikerin zu werden?

Geschichte hat mir einen Zugang zu unterschiedlichen Perspektiven eröffnet, auf die Vergangenheit, die Gegenwart. Das hatte ich nie. Für uns gab es nur eine Weltsicht: die unseres Vaters.

Ihre Eltern haben Ihnen gesagt, dass Sie alles lernen können, was Sie wollen. Drei der sieben Geschwister haben sogar promoviert, Tyler, Richard und Sie. Würden Sie sagen, die Erziehungsmethode funktioniert doch?

Nein. Für einige Leute tut’s das vielleicht. Es gibt Menschen wie meine beiden Brüder, die nur noch härter arbeiten, wenn man ihnen Bildung vorenthält. Meine anderen Geschwister taten das nicht.

„Ich wollte einen Weg finden, zu vergeben“

Idyllisch. Der Blick auf das Cache Valley in Idaho.
Idyllisch. Der Blick auf das Cache Valley in Idaho.

© imago/Danita Delimont

Hat es Vorteile, in Eigeninitiative zu lernen statt in einer Institution?

Ich glaube, es hat etwas Gutes, sich selber verantwortlich zu fühlen für seine Bildung. Wir wurden nie gezwungen, zu büffeln, und kamen nie auf die Idee, dass wir je etwas lernen würden, wenn wir es uns nicht selber beibringen. Meine Eltern haben es nur zu weit getrieben. Wir hatten keine Lehrbücher im Haus, niemand hätte uns Algebra beibringen können, wenn wir es gewollt hätten. Ich glaube, dass Kinder Lehrer brauchen und eine Struktur. Allerdings hat das staatliche Bildungssystem dabei möglicherweise übertrieben. Bildung wurde zu etwas Passivem, Institutionalisiertem. Fast, als ob man da auf ein Fließband steigt und auf der anderen Seite gebildet wieder rauskommt.

Sie sind total isoliert aufgewachsen. Dann haben Sie in Cambridge studiert, hatten ein Gates-Stipendium für „Future leaders of the world“. Was hat es für Sie bedeutet, ins Ausland zu gehen?

Großbritannien war eine ganz andere Welt, hat auch eine völlig andere akademische Tradition. Man hat dort ein Supervisionssystem mit einem Professor, im Dialog. Es hat mir die Augen dafür geöffnet, dass es unterschiedliche Arten gibt, zu leben. Dass die Welt groß ist.

Jeder erbt Züge seiner Eltern, ob es einem gefällt oder nicht. Wie viel von Ihrem Vater, wie viel von Ihrer Mutter steckt in Ihnen?

Ich habe wahrscheinlich viel mehr Ähnlichkeiten mit meinem Dad. Auch wenn er immer am selben Ort gelebt hat – die Überzeugung, in einen unbekannten Raum treten zu können, etwas zu machen, was einem nicht vertraut ist, habe ich wahrscheinlich von ihm. Er ist ein mutiger Mensch. Meine Mutter ist freundlich, empathisch, hört Leuten zu. Ich hoffe, dass ich das von ihr geerbt habe.

Hat es Ihnen geholfen, Tagebuch zu führen?

Meine Großmutter hatte mir eins geschenkt, als ich zehn war: rosa, mit Teddybär vorne drauf. Darin habe ich angefangen zu schreiben. Als das voll war, habe ich ein neues gekriegt, und dann noch eins und noch eins – ich habe einfach weitergemacht. Für mich war es ein wichtiger, sinnstiftender Teil meines Lebens.

Sie misstrauen aber dem, was Sie damals notiert haben, weil Sie zum Teil das Erlebte aus Sicht Ihres Bruders geschrieben haben, nicht Ihrer eigenen.

Das war meine Perspektive damals. Ich war sehr empfänglich für die Interpretation meiner Erlebnisse durch andere. Es war ein Leichtes für ihn, mir zu erzählen, dass er mich aus Spaß auf dem Parkplatz verprügelt hat. Er erzählte mir, dass ich das Ganze missverstanden habe. Und ich habe das geglaubt. Es hat gedauert, bis ich allmählich meiner eigenen Sicht vertrauen konnte.

Bei Ihnen zu Hause gab’s keine Romane, die Sie hätten lesen können. Stießen Sie als Studentin darauf?

An der Uni habe ich nur Lehrbücher, keine Literatur gelesen. Bis ich dann an meinen Erinnerungen saß: Ich wollte lernen, wie man schreibt. Die meisten Autoren, die ich jetzt mag – Alice Munro, Margaret Atwood, Laurie Moore, David Sedaris –, arbeiten für den „New Yorker“. Weil ich das Schreiben vor allem durch den „New Yorker“-Fiction Podcast gelernt habe. Da spricht eine Redakteurin jeweils mit einem Autor über eine Kurzgeschichte. Das war extrem wichtig für mich. Alles, was sie erklärt haben, zum Beispiel über die Erzählperspektive, alles war eine Offenbarung.

Im Buch versuchen Sie zu verstehen. Ging es auch darum, zu vergeben?

Ich wollte einen Weg finden, zu vergeben, ohne zurückzukehren zu giftigen Beziehungen. Es ist vielleicht nicht das Gleiche wie Versöhnung.

Fahren Sie noch nach Idaho?

Ja, jedes Jahr. Um meine Cousins und einige meine Brüder zu besuchen.

Haben Sie zu Ihren Eltern Kontakt?

Meiner Mutter schreibe ich alle paar Monate. Gesehen habe ich meine Eltern das letzte Mal bei der Beerdigung meiner Großmutter, vor vier Jahren.

Und wie war das?

Schwierig. Ich vermisse sie, aber, ja, es ist kompliziert. Dir fehlt jemand – und gleichzeitig bist du froh, dass sie nicht mehr zu deinem Leben gehören.

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