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Fünf Millionen Menschen sind derzeit in Deutschland pflegebedürftig.

© imago/Westend61/IMAGO/HalfPoint

Altenpflege in Not: Kaum Gewerkschaftsmitglieder trotz prekärer Arbeitsbedingungen

Tarifverträge in der Altenpflege sind selten. Doch ohne bessere Arbeitsbedingungen bleibt der Fachkräftenachwuchs aus – und der Pflegenotstand spitzt sich weiter zu.

Stand:

Für die Regelung der Arbeitsbedingungen sind hierzulande Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften zuständig. Die Tarifautonomie ist sogar im Grundgesetz festgeschrieben –, aber das hilft auch nicht weiter. Nur noch die Hälfte aller Beschäftigte fällt unter den Schutz eines Tarifvertrages.

Vor allem in Dienstleistungsbranchen haben Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften zu wenige Mitglieder; das schwächt das Verhandlungsmandat und die Verhandlungsmacht. Tarifverträge sind selten. Zum Beispiel in der Altenpflege mit mehreren zehntausend Arbeitgebern und Hunderttausenden Arbeitnehmern.

Von einem „System der defekten Arbeitsbeziehungen“ berichten die Sozialwissenschaftler Saara Inkinen und Wolfgang Schröder in einer neuen Publikation zum Thema „Attraktive Pflegeberufe durch Tarifautonomie“ (Bedingungen und Potenziale dynamischer Arbeitsbeziehungen in Zeiten des Fachkräftemangels, Springer VS, 2025, 223 Seiten).

Kaum eine andere Branche ist in den letzten Jahren so stark gewachsen wie die Altenpflege. Um 51 Prozent legte die Bruttowertschöpfung der ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen von 2015 bis 2022 zu und damit „deutlich stärker“ als zum Beispiel Krankenhäuser und Arztpraxen, berichten die Autoren.

Es gibt zunehmend privatwirtschaftliche Träger; sie organisieren inzwischen 55 Prozent der 31.500 zugelassenen Pflegeeinrichtungen und beschäftigen einen Großteil des Personals. Vor zehn Jahren arbeiteten 532.000 Personen in der Altenpflege, Mitte 2024 waren es 636.000.

Vom Beschäftigtenzuwachs profitieren in der Regel auch Gewerkschaften. In der Altenpflege jedoch tritt Verdi aus verschiedenen Gründen auf der Stelle. Die Mitgliederzahl ist so mickrig, dass die Dienstleistungsgewerkschaft den Mantel des Schweigens darüber hängt. Viel mehr als 60.000 dürften es kaum sein, und mit einem Organisationsgrad von zehn Prozent kann keine Gewerkschaft erfolgreich Tarifverhandlungen führen.

Einer der Hauptgründe für den Pflegenotstand liegt in den prekären Arbeitsbedingungen der Branche. Tarifverhandlungen zur Festlegung von Mindeststandards könnten die Rekrutierung und Bindung von Pflegekräften verbessern.

Saara Inkinen und Wolfgang Schröder, Sozialwissenschaftler

Gleichzeitig ist die Arbeitgeberseite heterogen, es gibt keinen dominierenden Verband, der private Träger integriert und ein Interesse an einer breiten Regelung der Arbeitsbeziehungen in einem Flächentarif hat. Das hat Folgen für die Altenpflege und die alternde Gesellschaft insgesamt.

„Einer der Hauptgründe für den Pflegenotstand liegt in den prekären Arbeitsbedingungen der Branche. Tarifverhandlungen zur Festlegung von Mindeststandards könnten die Rekrutierung und Bindung von Pflegekräften verbessern“, schreiben Inkinen und Schröder.

Ausweislich der Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit bleiben freie Stellen für examinierte Altenpflegekräfte mehr als 200 Tage unbesetzt. Gleichzeitig steigt die Zahl der Hilfsbedürftigen. Drei Viertel der Pflegeeinrichtungen mussten im Untersuchungsjahr 2022 ihre Angebote reduzieren; in der ambulanten Pflege erklärten sogar 89 Prozent der Pflegedienste, keine neuen Kundinnen und Kunden mehr aufnehmen zu können.

5
Millionen Menschen sind derzeit pflegebedürftig.

Derzeit sind gut fünf Millionen Menschen pflegebedürftig, nach einer Hochrechnung des Statistischen Bundesamtes könnten es in 30 Jahren 6,8 Millionen sein. Inkinen/Schröder zufolge wird die Mehrheit der Pflegebedürftigen (51 Prozent) ausschließlich durch Angehörige gepflegt. Aber bleibt das auch so?
 
Der aktuelle Personalmangel im Pflegebereich liegt zwischen 80.000 bis 200.000 Vollzeitkräften – „je nachdem, welche Personalgruppen, Fachgebiete und Vergleichsgrößen der Analyse zugrunde liegen“, schreiben Inkinen/Schröder. Bis Mitte des Jahrhunderts würden vermutlich 690.000 zusätzliche Pflegekräfte gebraucht.

Da attraktivere Arbeitsbedingungen eine Voraussetzung sind zur Behebung des Arbeitskräftemangels, sorgte die Politik mit verschiedenen Initiativen für eine bessere Entlohnung – und übernahm damit die eigentlich den Sozialpartnern zugedachte Rolle. So werden seit 2022 nur noch Pflegeeinrichtungen zugelassen, die ihre Belegschaft nach einem Tarif oder nach den arbeitsrechtlichen Regelungen der kirchlichen Wohlfahrtsverbände bezahlen.

4228
Euro brutto verdient eine Fachkraft in der Altenpflege.

„Innerhalb der Gesundheits- und Pflegeberufe profitierten vor allem Fachkräfte in der Altenpflege in den vergangenen zehn Jahren von besonders stark gestiegenen Verdiensten“, teilte das Statistische Bundesamt kürzlich mit. Demnach verdienten vollzeitbeschäftigte Altenpflegerinnen und -pfleger im April 2024 durchschnittlich 4228 Euro brutto und damit 1612 Euro mehr als zehn Jahre zuvor.

Fachkräfte in der Altenpflege profitierten in den vergangenen zehn Jahren von besonders stark gestiegenen Verdiensten.

Statistisches Bundesamt

Die Hilfskraft in der Altenpflege bekommt knapp 3000 Euro brutto und liegt rund 200 Euro über dem Durchschnitt vergleichbarer Arbeitskräfte in der Wirtschaft insgesamt.

30 Prozent der Azubis brechen ab

Auch aufgrund der Diskussionen in der Corona-Zeit erfahren Pflegeberufe eine höhere Wertschätzung. Marktforscher von „u-form Testsystem“ veröffentlichten kürzlich eine Studie über das Ansehen von Berufen bei Schülern und Azubis: Im Vergleich zur Vorgängerstudie aus 2018 verbesserte sich vor allem das Image der Kranken- und Altenpflege.

Aber die Arbeitsbedingungen bleiben trotz steigender Einkommen ein Problem. Von den jungen Leuten, die sich für die Altenpflege entschieden haben, brechen rund 30 Prozent die Ausbildung vorzeitig ab; ein Viertel der Pflegekräfte verlässt den Beruf binnen der ersten fünf Jahre nach der Ausbildung.

Wer im Beruf bleibt, der oder die reduziert die Arbeitszeit. 56 Prozent aller Altenpflegekräfte arbeiten auch deshalb Teilzeit, um den Belastungen einer Vollzeitstelle auszuweichen. Die Dauer der Krankschreibungen ist mit durchschnittlich 34,2 Tagen so hoch wie in kaum einer anderen Branche.  

Inkinen/Schröder referieren in ihrem Buch Ergebnisse des Gute-Arbeit-Index des DGB: Körperliche Anforderungen, die Lage der Arbeitszeit und Schichtdienste, psychische Belastung und Arbeitsverdichtung prägen die Altenpflege und machen den Beschäftigten zu schaffen.

Ein Drittel der Pflegekräfte sind Migranten

„Das Arbeitgeberfeld in der Altenpflege befindet sich in einem dynamischen Wandel“, resümieren die Sozialwissenschaftler ihre Studie. Die Bereitschaft, sich für bessere Arbeitsbedingungen zu engagieren, sei indes aufgrund des hohen Anteils von in Teilzeit arbeitenden Frauen mit einer häufig „intrinsischen Arbeitsmotivation“, angelernten Kräften und Migranten mit einem Anteil von gut 30 Prozent weiterhin schwach ausgeprägt.

Pflegerinnen und Pfleger sind keine Lokführer oder Industriearbeiter, die in Tarifkonflikten das Geschäft ihres Arbeitgebers lahmlegen und höhere Löhne erzwingen. Zwar gehörten „selbst Streiks mittlerweile zum Repertoire kollektiven Handelns in der Altenpflege“, berichten Inkinen/Schröder. Aber die Mehrheit der Beschäftigten „schließt das aus Verantwortungsgefühl für die zu pflegenden Personen nach wie vor aus“.

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