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Sag’s mit Blumen. In Wittstock/Dosse blühen nur Wiesen. Mit dem Westen vergleichbare Industrie gibt es vor allem in Sachsens Autowerken.

© imago images / Rainer Weisflog

30 Jahre deutsche Einheit: Blümerante Landschaften

Die ostdeutsche Wirtschaft holt nicht mehr auf. Eine ganze Elterngeneration ist abgewandert und innovative Weltmarktführer fehlen.

Gustav Horn hat Karriere im Osten gemacht. Der aus Nordrhein-Westfalen stammende Wirtschaftswissenschaftler macht als stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD im Stadtrat von Bad Belzig Kommunalpolitik. In der brandenburgischen Kleinstadt lebt er seit 22 Jahren. Ende der 1990er Jahre leitete Horn die Konjunkturabteilung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, ein paar Jahre später wurde er Gründungsdirektor des Instituts für Makroökonomie, das vom DGB mit dem Geld der Böckler-Stiftung eingerichtet wurde als Gegengewicht zum neoliberalen Mainstream in der Volkswirtschaftlehre. Im vergangenen Jahr ging Horn in Rente – rechtzeitig zur Kommunalwahl in Brandenburg, die ihn ins Stadtparlament von Bad Belzig beförderte.

Zu wenig Industrie

„Die Lebensqualität ist viel höher als vor der Vereinigung“, sagt Horn, und meint seinen Wohnort ebenso wie Ostdeutschland insgesamt. Infrastruktur ist vorhanden, die Versorgung mit Konsumgütern und Wohnungen funktioniert, und die Arbeitslosigkeit ist „ein Randproblem“. Wie im Westen. Den größten Unterschied sieht der Ökonom in der Wirtschaftsstruktur. In Bad Belzig sei Industrie „faktisch nicht vorhanden“, in Ostdeutschland gebe es „zu wenige industrielle Zentren“, sagt Horn im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Die Ansiedlung von Tesla ist ein tolles Signal“ – wenn der E-Auto-Hersteller seiner Belegschaft die in Brandenburg üblichen Tarife zahle. „Geschäfte, die sich nur lohnen, weil die Löhne niedrig sind, sind schlechte Geschäfte“, sagt Horn.

Kaum noch Tarife

In den Autofabriken – bei VW in Zwickau und Chemnitz, bei Porsche und BMW in Leipzig und bei Mercedes in Ludwigsfelde – wird drei Stunden in der Wochen länger gearbeitet als in den westdeutschen Werken. Und nicht nur in der Industrie, in Ostdeutschland insgesamt liegen die Einkommen unter dem Niveau im Westen. Ein Grund dafür: „Die Unternehmensverbände sind noch schwächer als die Gewerkschaften“, sagt Horn. Und so zeitigt die hochgelobte deutsche Tarifautonomie im Osten kaum Wirkung: Nach Tarif zahlen wenige Arbeitgeber, und erst die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 hat Millionen ein Einkommen gebracht, von dem es sich einigermaßen leben lässt.

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„Ostdeutschland – Eine Bilanz“ heißt eine aktuelle Schrift des Leipniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Die Ausgangsbedingungen waren miserabel 1990. „Es mangelte an allem: wettbewerbsfähigen Unternehmen, marktwirtschaftlichem Know-how, soliden Standortvorteilen. Stattdessen: verbreitete Enttäuschung über die Lasten des Systemwechsels, Arbeitsplatzverluste, Karrierebrüche und Schuldzuweisungen.“ In der Folge gab es eine Wanderungsbewegung, die den Aufholprozess auch noch in den kommenden Jahrzehnten bremsen wird. „Die Menschen wanderten in Scharen ab“, schreibt das IWH. Vor allem die industriellen Zentren im Westen profitierten vom Zuzug der oftmals jungen und ehrgeizigen Fachkräfte.

Kaum noch Abwanderung

Dennoch kommen die Hallenser Wissenschaftler zu einem positiven Befund der Einheit, weil sich in vielen Bereichen – Verkehrsinfrastruktur und Rechtswesen, Bildungssystem und medizinische Versorgung, Kulturangebot und Verfügbarkeit von Konsumgütern und Wohnraum – die Lebensverhältnisse angeglichen hätten. Und ganz wichtig: Abwanderungen und Zuwanderungen hielten sich inzwischen die Waage. „Für sich genommen ist das das stärkste Indiz für den Erfolg des Aufbau Ost“, meint Rüdiger Pohl, der zehn Jahre das IWH leitete.

30 Jahre nach der Einheit stehen die ostdeutschen Länder „weiter vor großen Herausforderungen“, resümierte das DIW vor ein paar Tagen die Ergebnisse von Studien, die sich mit der Produktivität, dem Bevölkerungsschwund und dem Wohnungsmarkt befassen. Seit der Einheit haben 15 Prozent der ehemaligen DDR-Bewohner ihre Heimat verlassen. Jetzt fehlt eine Elterngeneration. Bis 2050 befürchtet das DIW einen weiteren Rückgang der Einwohner um 13 Prozent, während der Rückgang im Westen nur mit 3,5 Prozent veranschlagt wird.

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Der Bevölkerungsschwund macht sich bemerkbar in den öffentlichen Kassen. Die Ausgaben der Länder und Kommunen „werden dauerhaft hinter denen im Westen zurückbleiben müssen“, sagt die DIW-Wissenschaftlerin Kristina van Deuverden. Deshalb würden die Spielräume für Investitionen „oder andere wachstumsfördernde Maßnahmen“ noch enger und im Ergebnis die Kluft zwischen Ost und West größer. „Die Unterschiede in der Wirtschaftskraft dürften sich in Zukunft wieder verstärken“, meint van Deuverden und plädiert für eine Änderung im Finanzausgleich zugunsten der Ostländer. „Kommunen und Länder müssen investieren können, damit die ostdeutschen Regionen für junge Menschen und Familien attraktiv sind“, sagt DIW-Präsident Marcel Fratzscher.

Keine Hidden Champions

Kaum geschrumpft ist in jüngster Zeit der Rückstand bei der Arbeitsproduktivität, die im Osten rund ein Fünftel unter der im Westen liegt. Kein ostdeutsches Bundesland „erreicht den Wert des schwächsten westdeutschen Bundeslandes Saarland“, schreibt das DIW. Dafür gibt es verschieden Ursachen. Zum einen sind „hochproduktive größere Unternehmen im Osten noch die Ausnahme“, zum anderen fehlen die berühmten Hidden Champions, eher kleine Unternehmen, die mit ihren Nischenprodukten häufig Weltmarktführer sind. Nur sechs Prozent dieser Firmen sind im Osten ansässig, davon wiederum fast die Hälfte in Berlin.

Geduld ist gefragt

Zumeist handelt es sich bei den Hidden Champions um Traditionsunternehmen, drei Viertel von ihnen sind älter als 40 Jahre, hat das DIW ermittelt. „Entsprechend könnte beispielsweise die gegenwärtig hohe Dynamik industrieller Gründungen in ostdeutschen Großstädten erst in den kommenden Jahrzehnten ihre Früchte tragen“, meinen die Berliner Wissenschaftler. Alles in allem sei „die Industrie für die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ein zentraler Bereich“.

Wenn es keine Industrie gibt, wie in Bad Belzig, dann ist das zumindest in der Coronazeit kein Nachteil: Die Finanzsituation der Stadt hat sich verbessert, erzählt Ratsmitglied Horn. Weil die Gewerbesteuereinnahmen nicht so stark eingebrochen sind und gleichzeitig die Coronahilfen von Bund und Land ankamen.

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