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Diskussion über Lohnfortzahlung : Karenztage machen keinen Sinn
Eine gute Unternehmenskultur sei das beste Mittel gegen hohen Krankenstand, sagen Fachleute bei einer Diskussion der OECD. Parteien meiden das Thema im Wahlkampf.
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Wer sich wohlfühlt, ist weniger krank. „Die physische und psychische Arbeitsfähigkeit“, sagt Mustapha Sayed von der Barmer Krankenkasse, „verbessert sich mit den Arbeitsbedingungen“.
Und Christopher Prinz, Gesundheitsexperte der OECD, betont den Einfluss der Unternehmenskultur auf den Krankenstand. „Die Qualität des Managements wird hierzulande kaum thematisiert, da sind uns die USA meilenweit überlegen“, sagte Prinz kürzlich bei einer Debatte des OECD Centre Berlin.
„Faul, verheizt oder verleumdet?“ Um Antworten auf diese Frage nach dem Image der Arbeitnehmer bemühten sich neben Prinz und Sayed auch Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter sowie ein Sozialwissenschaftler.
Ein Drittel trifft Bettkantenentscheidung
Wenn es der Wirtschaft schlecht geht, brechen immer Diskussionen auf über vermeintliche Fehlentwicklungen in der Wohlstandsgesellschaft: Es wird zu wenig gearbeitet, das Bürgergeld fördert Faulenzerei und die Generation Z hat sowieso kein Bock auf Job. „Missbrauchsdebatten sind fast immer überzogen“, sagt Prinz dazu.
Der Chef des Versicherungskonzerns Allianz hatte vor einigen Wochen vorgeschlagen, einen „Karenztag“ einzuführen. Arbeitnehmer sollten für den ersten Krankheitstag keine Lohnfortzahlung erhalten. Dadurch erhofft sich der Manager weniger Fehlzeiten und geringere Kosten.
Die Firmen zahlen nach Angaben der Bundesvereinigung der Arbeitgeber (BDA) rund 77 Milliarden Euro im Jahr für die Lohnfortzahlung.
Gut 19 Tage waren Erwerbstätige 2024 krankgeschrieben, wie die Techniker Krankenkasse und die DAK auf der Basis eigener Versichertendaten ermittelten. Das war etwas mehr als im Fehlzeiten-Rekordjahr 2023.
Hauptursache für die steigenden Zahlen sei die elektronische Erfassung der Krankschreibungen seit 2022, sagt Nicolas Ziebarth vom Wirtschaftsinstitut ZEW in Mannheim.
Das deutsche System – sechs Wochen Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber, anschließend bis zu 1,5 Jahre Krankengeld (70 Prozent des Bruttogehalts) von der Krankenkasse – sei großzügig.
Nur in Norwegen und Chile gehe die Lohnfortzahlung über sechs Wochen hinaus, berichtete Ziebarth. In den USA gibt es kein Geld im Krankheitsfall.
Ärzte sind Teil des Problems. Sie unterscheiden nicht zwischen krank und arbeitsunfähig.
Christopher Prinz, Gesundheitsexperte der OECD
Je großzügiger die Lohnfortzahlung, desto mehr Fehltage – dieser Zusammenhang sei durch Studien belegt, führte der ZEW-Wissenschaftler aus und begründete das mit einer Nachfrageelastizität, die etwa bei Eins liege.
Umgerechnet auf die Lohnfortzahlung bewirkt demnach die Kürzung der Lohnersatzleistung um 20 Prozent eine Reduzierung der Fehlzeiten um 20 Prozent.
Ferner hätten Umfragen ergeben, dass ein Drittel der Arbeitnehmer „häufig oder manchmal“ sogenannte Bettkantenentscheidungen gegen den Job und für die Krankschreibung treffen würden. Die Betroffenen sind womöglich leicht erkrankt, aber nicht vollständig arbeitsunfähig.
Trotz alledem halten Ziebarth und der Verdi-Vertreter Norbert Reuter nichts von Karenztagen. Aus verschiedenen Gründen. Durchschnittlich 100 Euro netto betrage die Lohneinbuße; für Geringverdiener sei das viel Geld, weshalb manche womöglich trotz Krankheit zur Arbeit gehen würden. Überhaupt arbeiteten rund 40 Prozent der Arbeitnehmer trotz „Krankheitsanzeichen“ aus Angst um den Job, sagte Ziebarth.
Wenn jemand krankgeschrieben sei, könnte der Karenztag die Fehlzeit verlängern, da der Beschäftigte nach Rückkehr an den Arbeitsplatz im Falle eines Rückfalls erneut mit einem Karenztag „bestraft“ werde.
Ziebarth befürchtet alles in allem eine rückläufige Produktivität der Arbeitnehmer sowie mehr Infektionen im Betrieb. Schließlich sei eine womöglich gut gemeinte Kürzung der Lohnersatzleistung durch die Politik nicht von Dauer: So wie 1996 würden auch künftig die Gewerkschaften die gewohnte Fortzahlung in Tarifverhandlungen durchsetzen.
„Die Arbeitsbedingungen sind gut in Deutschland“, befand OECD-Gesundheitsexperte Prinz. Er betonte die Verantwortung der Ärzte, die mit einer laxen Krankschreibungspraxis „Teil des Problems“ seien und zumeist nicht zwischen krank und arbeitsunfähig unterschieden.
Susanne Wagemann von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände sieht denn auch Spielraum für eine teilweise eingeschränkte Arbeitsunfähigkeit.
Die Betroffenen könnten womöglich nichts ins Büro fahren, aber zumindest einige Stunden im Homeoffice arbeiten. Das liefe auf eine Teilzeitkrankschreibung hinaus; das klingt plausibel, ist in der Umsetzung aber kompliziert, wie Wagenmann einräumte.
Die Parteien halten sich im Wahlkampf zu dem Thema bedeckt. „Leistung muss sich wieder lohnen. Wir brauchen eine Agenda für die Fleißigen“, lautet die allgemeine Parole der Union.
„Hohe Standards beim Arbeitsschutz“ sollen gewahrt, dabei jedoch die tägliche Höchstarbeitszeitgrenze von zehn Stunden abgeschafft werden und nur noch eine wöchentliche Obergrenze gelten.
„Wir stehen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Wer krank ist, gehört nicht an den Arbeitsplatz“, heißt es im Wahlprogramm der SPD, die in den Betrieben die Gefährdungsbeurteilungen zur Ermittlung ungesunder Einflussfaktoren vorantreiben möchte.
„In einer Zeit der steigenden Kosten und Belastungen kann man den Beschäftigten nicht mit Kürzungen drohen“, lehnt der arbeits- und sozialpolitische Sprecher der AfD Änderungen bei der Lohnfortzahlung ab.
Die Grünen wiederum möchten den Arbeits- und Gesundheitsschutz in der sich wandelnden Arbeitswelt ausbauen und ihn neuen Herausforderungen anpassen – „insbesondere mit Blick auf die psychische Gesundheit“.
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