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Politik für Reiche wirft Dirk Hierschel Bundeskanzler Gerhard Schroeder und dessen Bundesfinanzminister Hans Eichel Anfang der nuller Jahre vor.

© DDP

Effekte der Ungleichheit: Arme wählen seltener als Reiche

Der Gewerkschaftsökonom und Sozialdemokrat Dierk Hirschel beschreibt die Spaltung der deutschen Gesellschaft und sorgt sich um die Demokratie.

Dierk Hirschel hat schwer gelitten an seiner Partei. Der Chefökonom der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ist seit 2012 Mitglied der Grundwertekommission der SPD. 2019 gehörte er zu den 17 Kandidaten für den Parteivorsitz. „Wir rieben uns die Augen und trauten unseren Ohren nicht“, erinnert sich Hirschel, weil alle Kandidatinnen und Kandidaten im Verlauf des Castings immer weiter nach links gerückt seien, also dahin, wo Hirschel und seine Partnerin Hilde Mattheis platziert waren. Selbst Olaf Scholz, der doch von 2002 bis 2004 als SPD-Generalsekretär amtierte – also genau in der Zeit, als der SPD-Kanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010 auf den Weg brachte.

Jene Jahre stecken dem Politikwissenschaftler und Volkswirt Hirschel ebenso in den Knochen wie anderen Sozialdemokraten. „Anfang des 21. Jahrhunderts vollendete paradoxerweise eine Mitte-links-Regierung die neoliberale Konterrevolution“, heißt es in dem Buch „Das Gift der Ungleichheit“, mit dem Hirschel die Krisen von SPD und DGB aufarbeitet und dabei einen Bogen bis hin zur Krise der Demokratie spannt. Schließlich gehe es ihm darum, so formuliert der 50-Jährige, „die Gesellschaft vor einem sozial und ökologisch zerstörerischen Kapitalismus (zu) schützen“.

Eng verbunden mit Frank Bsirske

Hirschel hat den Großteil seines Erwerbslebens bei Gewerkschaften verbracht: von 2003 bis 2010 als Chefökonom des DGB, seitdem in gleicher Funktion bei Verdi. Dem langjährigen Verdi- Vorsitzenden Frank Bsirske, der im Herbst mit einem Ticket der niedersächsischen Grünen in den Bundestag ziehen möchte und der vom Amt des Arbeitsministers träumt, ist Hirschel politisch verbunden. „Immer mehr Menschen wehren sich mittlerweile gegen Lohndumping, unsichere Jobs, hohe Mieten und die Zerstörung der Natur“, schreibt Bsirske im Vorwort. Warum das so ist, versucht Hirschel auf 250 Seiten zu erläutern.

"Schwarze Null ist wichtige als grüne Null"

Eigentlich auf 165 Seiten. Die ersten zwei Drittel widmet der Autor den sozioökonomischen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte. Im letzten Teil stehen dann die Handlungsempfehlungen, wie man sie von Linken kennt: Mindestlohn auf zwölf Euro anheben, Ausbau des öffentlichen Sektors auch durch Verstaatlichung, überhaupt mehr Staat, vor allem mehr Sozialstaat, höhere Steuern für Reiche, mit denen die riesigen öffentlichen Investitionen finanziert werden könnten. Alles Vorhaben für die nächste Regierung, denn der ungeliebten großen Koalition sei „die schwarze Null wichtiger als die grüne Null“ gewesen. Jedenfalls bis Corona. Eine neoliberale Austeritätspolitik blockiere die unverzichtbare Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, da ist sich Hirschel sicher.

Abrechnung mit der eigenen Partei: Der SPD widmet sich Dierk Hirschel ausgiebig.
Abrechnung mit der eigenen Partei: Der SPD widmet sich Dierk Hirschel ausgiebig.

© picture alliance / dpa

Lesenswert ist die Beschreibung von politischen Entscheidungen und deren Folgen für das „Jahrhundert der Ungleichheit“. Hirschel greift dazu reichlich auf statistisches Material zu: 26 Superreiche besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung; in den Industrieländern verfügt das reichste Zehntel über die Hälfte des Gesamtvermögens, die untere Hälfte lediglich über drei Prozent; in Deutschland steigen die Einkommen aus Kapital und Vermögen seit 2000 um 30 Prozent, die Arbeitseinkommen nur um 24 Prozent. „Reichtum und Arbeit sind zwei Seiten der gleichen Medaille“, schreibt Hirschel und erwähnt eine Studie der OECD, wonach die steigende Ungleichheit die Industrieländer zwischen 1990 und 2010 insgesamt fünf Prozentpunkte Wachstum gekostet habe: Sozial Schwache geben nicht genug für ihre Bildung aus und die schwache Kaufkraft der Armen belastet die Binnenkonjunktur. Nirgendwo in Europa ist die Vermögensverteilung so stark ausgeprägt wie in Deutschland“, schreibt Hirschel.

Politik für Privilegierte

Mit negativen Folgen für die Demokratie, denn Arme wählen seltener als Reiche. Auch deshalb habe sich die Bundespolitik unter Kohl, Schröder und Merkel „sehr stark an den Interessen der Privilegierten ausgerichtet“. Auch deshalb sei die AfD im Bundestag gelandet. Dass sich Hirschel vor allem auf den Parteifeind Schröder konzentriert, der mit dem SPD-Finanzminister Hans Eichel die „Finanzmärkte entfesselt hat“, ist naheliegend. Schröder/Eichel schafften die Steuern auf Veräußerungsgewinne ab, was zur Auflösung der Deutschland AG beitrug und Hedgefonds oder Vermögensverwalter wie Blackrock ins Land lockte. Die Entfremdung der Arbeiter von der SPD dauert bis heute.

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„Das sozialdemokratische Leistungs- und Sozialstaatsversprechen wurde gebrochen“, schreibt Hirschel mit Blick auf Schröders Agendapolitik, der eine Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 42 Prozent vorausgegangen war. „Die rot-grünen Steuergeschenke drückten die reale Steuerlast der 450 reichsten Deutschen von 43 auf 31 Prozent“, hat Hirschel ausgerechnet. Das koste den Staat 1,7 Milliarden Euro im Jahr. „Wenn ich nicht arm wäre, wärst du nicht reich“, zitiert der Verdi-Mann Bertolt Brecht.

"Staatlich gefördertes Lohndumping"

Fatal für Arbeitnehmer und Gewerkschaften hätten die unter dem Namen Hartz bekannten rot-grünen Arbeitsmarktreformen gewirkt. Durch die veränderte Zumutbarkeit gebe es bis heute ein „staatlich gefördertes Lohndumping“, die Angst vor dem Absturz im Hartz-System „macht ganze Belegschaften lohnpolitisch erpressbar“ und schwächte die Verhandlungsposition der Gewerkschaften.

„Schröders angebliches Jobwunder ist nichts anderes als ein populäres neoliberales Märchen“, meint der Verdi-Ökonom. Der Beschäftigungsaufbau seit 2009 verdanke sich schlicht dem Aufschwung, und die Zunahme der Erwerbstätigen erklärt er vor allem mit prekärerer Beschäftigung (Mini- und Teilzeitjobs); das Arbeitsvolumen haben sich indes kaum verändert. Die Lage ist ernst, entsprechend fällt Hirschels Diktion aus. Einmal schaut er mit Humor auf seine Partei zurück, die in den 33 Jahren nach Willy Brandt elf Vorsitzende gehabt hat: „Einen solchen Umgang mit Führungspersonal toppt nur der HSV.“

Dierk Hirschel, Das Gift der Ungleichheit. Dietz 2020, 256 Seiten, 22 Euro

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