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Der nächste Dieselskandal? Nach der "Umschaltlogik" muss sich VW jetzt für das Thermofenster rechtfertigen. Die Technik ist aber auch von vielen anderen Herstellern genutzt worden.

© Julian Stratenschulte/dpa

EuGH-Anwalt sieht Thermofenster kritisch: Der nächste Dieselstreit kocht hoch

Die temperaturgesteuerte Abgasreinigung kann gegen EU-Recht verstoßen, meint der Generalanwalt. VW sieht das anders und begründet das mit dem Motorschutz.

Die deutschen Autobauer könnten auf den nächsten Dieselskandal zusteuern. Im Streit um die sogenannten Thermofenster, die in fast allen Dieselautos verbaut sind, zeichnet sich eine Schlappe vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ab. In seinem Schlussplädoyer kritisierte der Generalanwalt am EuGH, Athanasios Rantos, von VW verwendete Abschalteinrichtungen, die die Abgasreinigung bei Außentemperaturen von unter 15 Grad und über 33 Grad sowie bei Höhenlagen über 1000 Meter drosseln oder ganz einstellen. Solche Abgassysteme seien unionsrechtswidrig, ein solches Fahrzeug nicht verkehrsfähig, betonte Rantos am Donnerstag.

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Die Richter am EuGH sind an die Gutachten nicht gebunden, folgen ihnen aber in der Regel. Mit einem Urteil ist in den kommenden Monaten zu rechnen. VW betonte, man halte die Einrichtungen weiterhin für zulässig. Klägeranwälte machen dagegen den Eigentümern von Dieseln nach der Kritik aus Luxemburg neue Hoffnung auf Schadensersatz. "Die Chancen der Kläger auf Schadensersatz sind jetzt deutlich besser", sagte Sebastian Schlote von der Berliner Kanzlei Gansel Rechtsanwälte.

Was sind Thermofenster?

Mit dem Begriff bezeichnet man eine temperaturabhängige Abgasreinigung in Dieselautos. Um den Ausstoß von Stickoxiden zu verringern, wird ein Teil der Abgase in den Motor zurückgeleitet und erneut verbrannt. Bei besonders niedrigen oder hohen Außentemperaturen kann die Menge gedrosselt werden bis hin zu einer kompletten Ausschaltung der Technik. Anders als bei der Betrugssoftware geht es hier aber nicht um die Frage, ob Abgaswerte auf dem Prüfstand geschönt wurden.

Was sagen die Hersteller?

Die Autohersteller begründen den Einsatz der Thermofenster mit dem Schutz des Motors. Bei niedrigen Temperaturen drohe eine Fehlfunktion des Abgasrückführungsventils (AGR-Ventil), so dass etwa bei einem Überholmanöver das Fahrzeug nicht mehr ausreichend beschleunige. VW betont zudem, dass bei seinen EA288-Motoren - den Nachfolgern der vom Dieselskandal betroffenen EA189-Motoren - die Abgasrückführung nur noch bei Extremtemperaturen von unter 24 Grad und plus 70 Grad eingesetzt werde. "Im realen Fahrbetrieb kommt das Thermofenster in diesen Fällen de facto nicht mehr zum Einsatz", betonte ein VW-Sprecher am Donnerstag.

Zu hohe Emissionen? Ein Mitarbeiter des TÜV Nord überprüft einen Skoda Diesel.
Zu hohe Emissionen? Ein Mitarbeiter des TÜV Nord überprüft einen Skoda Diesel.

© Julian Stratenschulte/dpa

Was kritisiert der EuGH?

Der Generalanwalt beim EuGH beschäftigte sich mit drei Fällen aus Österreich, bei denen die Software nur in einem Temperaturbereich von 15 bis 33 Grad und unterhalb von 1000 Metern in vollem Umfang arbeitete und Stickoxid-Emissionen senkte. Rantos hält diese Technik für eine verbotene Abschalteinrichtung, weil sie angesichts der klimatischen und geografischen Bedingungen in Deutschland und Österreich dazu führe, dass die Abgasrückführung häufig eingeschränkt ist.

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Nach einem früheren Grundsatzurteil des EuGH sind Abschalteinrichtungen nur dann nicht verboten, wenn sie den Motor vor plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden schützen. Rantos betonte, diese Ausnahme liege beim Thermofenster nicht vor. Die Schonung von Anbauteilen wie AGR-Ventil, AGR-Kühler oder Dieselpartikelfilter falle nicht unter die Ausnahmeregelung. Anders liege der Fall aber, "wenn sich die Fehlfunktion des AGR-Ventils abrupt auf den Betrieb des Motors selbst auswirkt, ohne dass diese Folgen durch eine regelmäßige und sachgemäße Wartung des Fahrzeugs zu verhindern wären", schreibt Rantos. VW bewertet das als Bestätigung der aktuellen Praxis. Es sei Aufgabe der nationalstaatlichen Gerichte und Behörden, im Einzelfall zu entscheiden, ob ein konkretes Thermofenster zulässig ist oder nicht.

Was heißt das für die Verbraucher?

In mehreren Fällen, die Daimler betreffen, hat der Bundesgerichtshof (BGH) kürzlich alle Klagen auf Schadensersatz wegen des Thermofensters abgelehnt. Es müsse nicht nur ein Schaden vorliegen, sondern die Hersteller hätten zudem - wie im Fall der VW-Betrugssoftware - vorsätzlich und sittenwidrig handeln müssen, so der BGH. Das sei aber beim Thermofenster nicht der Fall. Wegen der Ausnahmeregelung zum Motorschutz sei die Rechtslage unsicher gewesen. Hinzu kommt, dass das Kraftfahrtbundesamt Thermofenster grundsätzlich für zulässig hält. Auch VW betonte am Donnerstag in einer Stellungnahme, dass derartige Klagen auf Schadensersatz weiterhin keine Aussicht auf Erfolg hätten.

Klägeranwälte sehen jetzt bessere Chancen

Klägeranwälte sehen das naturgemäß anders: "Nach dem Plädoyer des Generalanwalts beim EuGH kann der BGH nicht länger an seiner Rechtsprechung festhalten, dass der Einbau eines Thermofensters keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Kunden ist", sagt Sebastian Schlote. "Wenn das Thermofenster die Abgasreinigung bei Temperaturen ausschaltet, die in Deutschland häufig vorkommen, hätten die Autos keine Typgenehmigung bekommen dürfen. Sie sind gar nicht verkehrsfähig." 

Es seien noch zahlreiche Fälle beim BGH anhängig, betont Schlote. "Bisher hat sich der BGH vor den Karren der Autobauer spannen lassen, das kann er nicht länger tun". Das Gericht müsse die Autohersteller zumindest auffordern, zu erklären, was sie sich beim Einbau der Thermofenster gedacht haben. Sich herauszureden, dürfe ihnen jedoch kaum gelingen.

Der Grünen-Politiker Sven Giegold forderte, dass die Hersteller die kompletten Kosten für die Beseitigung der Abschalteinrichtungen übernehmen. "Nur so können wir für saubere Luft in unseren Städten sorgen und das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat gewährleisten", sagte der Abgeordnete im Europaparlament..

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