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Bereits in wirtschaftlich stabilen Zeiten haben einkommensschwache Haushalte Lebensqualität und Teilhabemöglichkeiten verloren.

© imago/photothek/Ute Grabowsky

Kein Geld für Schuhe: Immer mehr Armut in Deutschland

Armutsbericht der Böckler-Stiftung: Wer nicht teilhaben kann, der stellt das politische System in Frage.

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Der „soziale Stresstest“, den die Bundesrepublik derzeit erlebt, trifft auf eine „denkbar schlechte Ausgangsposition“. Es gibt mehr Armut im Land, der Rückstand der einkommensschwachen Haushalte gegenüber den Durchschnittseinkommen ist bereits vor Krieg und Corona um ein Drittel größer geworden gegenüber 2010. Wie es im neuen Verteilungsbericht des wissenschaftlichen Instituts der Böckler-Stiftung (WSI) weiter heißt, unterminiert Armut das demokratische System.  „68 Prozent der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, halten die Demokratie für die beste Staatsform, nur 59 Prozent finden, die Demokratie funktioniere gut“, teilt das WSI mit. „Armut und soziale Polarisierung können die Grundfesten unseres Miteinanders ins Wanken bringen“, meint WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch.

Bereits in wirtschaftlich stabilen Zeiten – das waren die Jahre von der Finanzkrise 2008/09 bis 2019 – verlieren einkommensschwache Haushalte Lebensqualität und Teilhabemöglichkeiten: Arme müssen häufiger auf Güter des alltäglichen Lebens wie eine Grundausstattung mit Kleidung oder Schuhen verzichten, sie können seltener angemessen heizen, leben auf kleinerem Wohnraum. „Sie haben einen schlechteren Gesundheitszustand, geringere Bildungschancen und sind mit ihrem Leben unzufriedener“, schreibt das WSI und erklärt damit auch die Distanz gegenüber dem politischen System. „Mehr Engagement gegen Armut ist auch notwendig, um die Gesellschaft zusammenzuhalten“, schlussfolgert Kohlrausch. Das gelte umso mehr in diesen Zeiten der extrem hohen Inflationsraten.

16,8
Prozent der Menschen in Deutschland gelten als arm

Der Verteilungsbericht entstand auf Grundlage des sozioökonomischen-Panels (SOEP), für das rund 16.000 Haushalte jedes Jahr interviewt werden, und das aktuell bis 2019 reicht. Hinzu kamen Daten aus der „Lebenslagenuntersuchung“ der Böckler-Stiftung, für die in den beiden vergangenen Jahren gut 4000 Menschen befragt wurden. Auch August-Daten über die Inflationsbelastung bezog das gewerkschaftliche Institut mit ein.

2019 waren so viele Menschen vor Armut betroffen wie nie zuvor.

Armutsbericht des WSI

Als arm definieren die Forscherinnen und Forscher gemäß der üblichen wissenschaftlichen Definition Menschen, deren Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt. „2019 waren so viele Menschen in Deutschland von Armut betroffen wie nie zuvor“, heißt es in dem neuen WSI-Bericht. Mit zwischenzeitlichen Schwankungen stieg die Armutsquote laut SOEP zwischen 2010 und 2019 von 14,3 Prozent auf 16,8 Prozent. Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hatten, ging im gleichen Zeitraum sogar um gut 40 Prozent in die Höhe: Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wuchs von 7,9 auf 11,1 Prozent.

Deutlich größer wurde auch die Armutslücke. Das ist der Betrag, der einem armen Haushalt fehlt, um rechnerisch über die Armutsgrenze von 60 Prozent zu kommen. 2010 betrug der Rückstand 2968 Euro innerhalb von zwölf Monaten und erhöhte sich bis 2019 auf 3912 Euro. „Hier zeigt sich, dass die armen Haushalte von diesem Aufschwung nicht profitieren konnten.“

Die Ungleichheit ist größer geworden

Dieser Umstand strahlt dann auch aus auf die Ungleichheit der Einkommen, die der so genannte Gini-Koeffizienten abbildet. Die Gini-Kurve flachte sich zwischenzeitlich ab, um dann aber 2019 mit 0,296 einen neuen Höchststand zu erreichen. 2010 lag der Wert bei 0,283. „Selbst in den Jahren der Massenarbeitslosigkeit Anfang der 2000er Jahre war der Gini nicht höher“, betonen die WSI-Autorinnen.

Schon vor der Corona-Krise und der Rekordinflation in diesem Jahr konnten es sich gut 14 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze nicht leisten, neue Kleidung zu kaufen. Immerhin fünf Prozent fehlten die Mittel, um ihre Wohnung angemessen zu heizen, gut drei Prozent verfügten nicht einmal über zwei Paar Straßenschuhe.  

Aktuell sei angesichts von enormen Preissteigerungen bei den Basisgütern Energie und Nahrungsmitteln, die Haushalte mit niedrigeren Einkommen stärker treffen als Haushalte mit hohen Einkommen, eine weitere wirtschaftliche Polarisierung sehr plausibel. Im August hätten mehr als zwei Drittel der Befragten mit niedrigeren Haushaltseinkommen unter 2000 Euro netto im Monat an, sich bei Ausgaben für Bekleidung oder Schuhe etwas oder bedeutend einschränken zu wollen.  

Um Armut zu bekämpfen, schlagen die Autorinnen des gewerkschaftlichen Instituts verschiedene Maßnahmen vor. Dazu zählen höhere Löhne für Geringverdienende durch Stärkung der Tarifbindung und Rückbau des Niedriglohnsektors. Zur Stärkung des Tarifsystems, das vergleichsweise gute Einkommen gewährleistet, sollte das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit von Branchentarifverträgen erleichtert und Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen gestärkt werden. Zudem sollte sich der gesetzliche Mindestlohn an den Empfehlungen der EU-Kommission orientieren, danach müsste die Lohnuntergrenze mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns ausmachen.

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Ferner plädiert das WSI für eine Anhebung der Grundsicherung und eine „verlässliche öffentliche Daseinsvorsorge“. Dazu gehöre ein „gutes, bezahlbares Angebot bei öffentlichem Personennahverkehr und in der Energie- und Wasserversorgung, zudem flächendeckend gute Bildungseinrichtungen“. Der soziale Wohnungsbau müsse forciert werden: Bereits 2018, also vor den Krisen und dem dramatischen Anstieg der Heizkosten, hätten mehr als zehn Prozent Haushalte, die in Großstädten zur Miete lebten, mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Warmmiete ausgegeben.

Migranten mehr qualifizieren

Schließlich sei die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, da Alleinerziehende häufig von Armut betroffen sind. „Flexiblere Arbeitszeitmodelle sowie leichterer Zugang zu verlässlicher, idealerweise kostenfreier, Kinderbetreuung sind hierzu wichtige Schritte.“  Gerade Personen im unteren Einkommensbereich arbeiteten oft in atypischer Beschäftigung, auf befristeten Stellen oder in Minijobs. Hier müsse gezielt der Übergang in sichere und besser bezahlte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gefördert werden, vor allem durch eine „passgenaue Weiterqualifizierung von Menschen an den Rändern des Arbeitsmarktes“.  Bei der Qualifizierung müssten ganz besonders Migrantinnen und Migranten in den Fokus genommen werden.

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