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Wirtschaft: Gino Hahnemann

(Geb. 1946)||In die DDR passte er wie der Pfau ins Stacheltiergehege

Von David Ensikat

In die DDR passte er wie der Pfau ins Stacheltiergehege Aus der Tonbandabschrift des Treffberichts mit dem IM „Mode“ vom 8. Juni 1976: „Er ist ein ausgesprochener Frauentyp, obwohl von meiner Person gesagt werden kann, daß ich ihn noch nie in Begleitung einer Frau gesehen habe … Er trinkt nicht, er raucht nicht, und seine Beschäftigung während der Pausen der Modeschauen besteht darin zu lesen oder Manuskripte in die Schreibmaschine zu schreiben. Seine Manuskripte beziehen sich auf Fachtexte seines erlernten Berufes. Karl-Heinz Hahnemann wird zu allen Modeschauen vom Modezentrum der Jugend eingesetzt, unter anderem auch zur Eröffnung im Palast der Republik und zu den Veranstaltungen zum X. Parlament der FDJ.“

Entweder der IM „Mode“ wollte der Stasi nicht alles über sein Zielobjekt verraten, oder er kannte ihn schlecht. Er hätte sonst kaum von „Karl-Heinz“ Hahnemann gesprochen. So lautete zwar der bürgerliche Name, den aber benutzte kaum jemand. Seit seiner Studienzeit nannte Karl-Heinz sich Gino – seit einer Zeit also, in der die Ginos, die Kevins und die Mikes noch rar waren in der DDR. „Karl-Heinz“ passte wirklich nicht zu ihm, dafür war er viel zu schön und viel zu fremd. Die dunklen, langen Haare mit dem Mittelscheitel, der südliche Teint, die strahlend blauen Augen und außerdem das Talent zum unabhängigen und freien Leben – das war ein Mensch, der in die DDR passte wie ein Pfau ins Stacheltiergehege.

Ein Frauentyp sei er gewesen – mag sein. Doch für Frauen interessierte er sich überhaupt nicht. Sollte IM „Mode“ das nicht bemerkt haben? Der schöne Gino hat aus seiner Männerliebe nie ein Geheimnis gemacht.

Und dann die Sache mit den Fachtexten, die er in den Pausen geschrieben haben soll. Wahr ist, dass Gino Hahnemann studierter Architekt war. Er hatte auch mal als solcher gearbeitet. Doch das „Dipl. Ing.“ gehörte inzwischen zu ihm ebenso wenig wie der „Karl-Heinz“. Auf der Schreibmaschine wird er wohl Gedichte geschrieben haben.

Gino Hahnemann, geboren als Karl- Heinz Tanzyna – niemand weiß, woher die Mutter kam, wohin sie ging –, kurz nach der Geburt adoptiert von einer Jenaer Familie, Architekt, Dressman, Dichter und Super-8-Filmer, Bohémien, DDR-Bürger, Schwuler, Ehemann, Bürger der Bundesrepublik, Stipendiat, Sozialhilfeempfänger. Das klingt nach vielen Leben, und es ist ein einziges. Ein Leben mit einer einzigen Logik: Sei wahrhaftig. Sei du selbst.

Wer das ernst nimmt, befindet sich immer auf der Suche. Und man muss sich gar nicht wundern, von so einem kaum Auskunft zu erhalten auf die Frage, wer er wirklich sei. Viele kannten Gino Hahnemann, doch kaum einer wird sagen, dass er ihn wirklich kannte.

Eins steht fest: Gino Hahnemann war so unabhängig, wie man es nur irgend sein kann. Auch in der DDR. Gerade in der DDR. Denn in der DDR war er noch jung und schön, und Geld spielte keine Rolle.

Nach dem Architekturstudium in Weimar durfte er nach Berlin umziehen. Er bekam hier eine Anstellung an der Bauakademie. Was wie ein Hauptgewinn aussah, stellte sich schnell als Bürde heraus: Sieben Uhr Dienstbeginn, am Reißbrett Toilettentrakte konstruieren. Die Pausen waren schön. Da konnte er Unter den Linden flanieren wie früher die Großbürger. Da fiel er den Leuten auf, weil er so gut aussah. Einer fragte ihn, ob er Lust hätte, bei einer Modenschau mitzumachen. Natürlich hatte er Lust. Das war allemal besser, als Toilettentrakte zu zeichnen.

So wurde er Dressman, einer von ganz wenigen im Land, einer, an dem selbst die DDR-Konfektion nach Eleganz und weiter Welt aussah. Er kündigte im Baubüro - und verlor damit die Erlaubnis, in der Hauptstadt zu wohnen. Es blieb nichts übrig, Gino musste eine Berlinerin heiraten. Wie gesagt, er war ein Frauentyp.

Das Modeinstitut der DDR beschäftigte regelmäßig zwei männliche Laufstegkader, der eine Gentleman-Typ, der andere Naturbursche. Das war Gino. Er war gut im Geschäft, verdiente manchmal 4000 Mark im Monat, und er genoss sein Leben. Bis mittags schlafen, ständig unterwegs, bewundert werden, Fotos machen lassen, heute nicht wissen, was morgen Schönes geschieht.

Ein Freund aus der Weimarer Zeit traf ihn hin und wieder, wenn er selbst, in Geschäftsdingen unterwegs, in einem besseren Hotel wohnte. Gino – das war für ihn der stets vergnügte Jüngling mit dem Handtäschchen, darin der Ausweis und die Zahnbürste, der die Welt betrachtete wie einen Abenteuerspielplatz. In Leipzig trafen sie sich zufällig in einem Café. Gino erzählte – und hielt jäh inne: Er müsse kurz verschwinden, zum Geldverdienen. Wenn der Freund Lust habe, könne er gern mitkommen. Sie liefen zum Kaufhaus, der Freund sollte draußen warten. Nach wenigen Augenblicken erschien Gino im Schaufenster. Da stolzierte er im schmucken Anzug und mit gestrecktem Kinn auf und ab, fünf Minuten vielleicht, die Leute liefen eilig an dem Schaufenster vorbei. Der Freund weiß bis heute nicht, ob die Sache ein Gino-Spaß war oder eine Innovation des Modeinstituts.

Wann Gino mit der Kunst begann, und wie er dazu kam, weiß niemand so genau. In der Ost-Berliner Szene wurde er mit seinen Super-8-Filmen bekannt. Lange vorher hatte er zwar schon Gedichte geschrieben, aber damit war er einer unter vielen. Filme machten nur wenige.

Gino fragte niemanden um Erlaubnis, Filme zu drehen, also konnte er auch nicht mit der offiziellen Erlaubnis rechnen, seine Filme aufzuführen. Er zeigte sie bei sich zu Hause in der Ackerstraße und hin und wieder auf Partys. Die Frage, was Gino mit den Filmen sagen wollte, ist wahrscheinlich ebenso kleinlich wie schwer zu beantworten. Jedenfalls hat er darin gern alte Geschichten verarbeitet, doch keine Geschichten erzählt. Selbst seine Darsteller waren sich selten sicher, was sie da eigentlich darstellten. Aber Spaß machte die Sache allemal. Wenn nach den Dreharbeiten für den Kaspar-Hauser-Film auf der Biesdorfer Müllkippe alle schlimm stanken, dann war das ein angemessener Preis für die Untergrundkunst. Und den Selbstmord, den Ibsen in seiner „Frau vom Meer“ gar nicht vorgesehen hatte, überlebte Ginos Schauspielerinnendouble letztlich auch. Allerdings knapp: Der junge Mann musste im ausladenden Kleid in den Kiessee bei Schildow laufen (der Kiessee war das Double für die Nordsee), und zwar so weit, bis nur noch der Hut auf dem Wasser schwamm. Nur mit vereinten Kräften gelang es der Filmcrew den Selbstmörderinnendarsteller im bleischweren Kleid aus dem Wasser zu ziehen.

Nicht die DDR-Zensur grenzte Ginos Filmschaffen ein, sondern die Technik. Länger als 23 Minuten war keiner seiner Filme, mehr passte nicht auf eine Acht- Millimeter-Filmrolle. Und jeder Filmschnitt bedeutete ein Filmrissrisiko. Die Ost-Klebepressen waren eine Katastrophe. Immerhin, ob Fehlbelichtungen wirklich welche waren, wusste nur Gino selbst; alle anderen mussten Kunstwillen unterstellen.

Der Vorteil der Diktatur ist, dass es in ihr Untergrundkunst gibt. Da kann man wunderbare Sachen machen, die niemand verstehen und niemand kaufen muss. Und Gino hatte den Vorteil, dass er in seinem Untergrund unbehelligt blieb. Das Regime war ihm viel zu egal, als dass er dessen Gegner hätte werden müssen. Die Stasi interessierte sich mal für ihn, weil er Pornofilme aus dem Westen gezeigt hatte: Ein sowjetischer Zeichentrickfilm, Hase und Wolf, überblendet mit Beate-Uhse-Zeug, das ein Freund vom Bahnhof Zoo mitgebracht hatte. Der subversive Charakter der Vorführung war nicht deutlich genug, man ließ die Sache auf sich beruhen.

Als um ihn herum jeder, der was auf sich hielt, einen Ausreiseantrag stellte, ahnte Gino wohl schon, dass es ihm anderswo kaum besser gehen würde. Er stellte keinen.

Ab 1989 lebte er zwar nicht anderswo, doch in einer völlig anderen Welt. Selbst der Untergrund war weg. Gino konnte jetzt immerhin seine Gedichte in Bücher drucken lassen. Die sind nicht oft verkauft worden, aber darüber muss man sich bei Gedichtbüchern ja nicht wundern.

Er ist dick geworden. Mit seinem langen Haaren sah Gino irgendwann aus wie eine Indianersquaw. Die einen, die ihn nur als den „schönen Gino“ kannten, waren erschüttert: Der Mensch muss sich selbst abhanden gekommen sein.

Andere sagen, er sei ganz bei sich geblieben. Gino habe immer weiter geschrieben, habe eine Zeitlang von Stipendien leben können, sei in Ausstellungen gegangen - wenn sie keinen Eintritt kosteten.

Kurz vor seinem Tod hat er die alten Super-8-Filme, auf DVD überspielt, an Freunde verschickt. Dass er Krebs hatte, sagte er ihnen nicht.

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