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Automatisch und digital ist die deutsche Industrie erfolgreich. Anders als die deutschen Behörden.

© imago images/Xinhua

Hannover Messe eröffnet: Wie viel Staat darf’s sein?

Zur Eröffnung der digitalen Hannover Messe geht es um bürokratische Hemmnisse – die Industrie legt dennoch kräftig zu.

Wie viel Staat verträgt die Wirtschaft? Und welche Art von Staat braucht die Wirtschaft? Diese Fragen standen am Montag bei der Eröffnung der digitalen Hannover Messe im Mittelpunkt. Das Zusammenspiel von Politik und Industrie ist unverzichtbar für die Dekarbonisierung und Digitalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft. Dabei ist das Rollenverständnis bisweilen strittig. Annalena Baerbock, die mögliche Kanzlerkandidatin der Grünen, verteidigte selbstbewusst den Ansatz der Umweltpolitiker, der Wirtschaft mit einer Mischung aus Förderung und Ordnungsrecht auf die Sprünge zu helfen. „Jede Regulierung ist eine Chance, um Neues auf den Markt zu bringen“, meinte Baerbock in einer Diskussionsveranstaltung mit den Präsidenten des Maschinenbaus und der Elektroindustrie. Innovationen seien wirkungsvoller für den Klimaschutz als Verbote und Regulierungen, hielten die Industrievertreter dagegen.

Baerbock für Verbot von Verbrennern

Einmal mehr wurde am Beispiel der Autoindustrie der Dissens deutlich. Während Baerbock für ein Verbot von neuen Pkw mit Verbrennungsmotor in absehbarer Zeit plädierte, argumentierte Maschinenbaupräsident Karl Haeusgen mit synthetischen Kraftstoffen auf der Basis von Wasserstoff, die den Kolbenmotor sauberer machten. Im Übrigen sei es ein „Schmarrn“, meinte Haeusgen zu Baerbocks Vorhaltung, wonach die deutsche Autoindustrie den Trend zur Elektromobilität verschlafen habe.

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„Der Einsatz von Wasserstoff in Pkw macht keinen Sinn“, sagte Baerbock und führte mehrere Argumente an: Die Effizienz sei deutlich geringer als bei Elektroautos, und da Wasserstoff auf der Basis erneuerbarer Energien auf lange Zeit ein knappes Gut bleibe, müsse man Prioritäten setzen. Die Grüne nannte die Stahlindustrie und den Luftverkehr. In diesen Bereichen sei es dann auch sinnvoll, „wenn wir als Staat die Mittel zur Verfügung stellen, um technologische Sprünge zu schaffen“. Industriepolitik versteht Baerbock im Sinne des Green Deal der EU als Klimaschutzpolitik.

Estland als Vorbild

„Wir müssen in den Zukunftsmodus schalten“, appellierte Industriepräsident Siegfried Russwurm an die Politik, „einen klugen Ordnungsrahmen für den digitalen Wandel zu schaffen“. Selbst kleinere Firmen hätten rund 130 Mal im Jahr Kontakt zu Behörden – und das sei in der Regel zäh. Russwurm forderte eine „Digitaloffensive für die öffentliche Verwaltung“ und stieß damit auf Verständnis beim Bundeswirtschaftsminister, für den das Thema „hohe Priorität“ habe, wie Peter Altmaier beteuerte. Mit Blick auf die moderner organisierten baltischen Staaten meinte der Minister, er wolle „das beste digitale Team aus Estland einfliegen lassen“, um die deutschen Amtsstuben auf die Höhe der Zeit zu bringen.

Merkel für weitere Handelsabkommen

Die Hannover Messe als Leistungsschau der deutschen Industrie findet wegen der Pandemie ausschließlich digital statt. Spitzenpolitiker aus dem diesjährigen Partnerland Indonesien wurden ebenso zugeschaltet wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Merkel hat seit 2006 in jedem Jahr die Messe eröffnet, am Montag äußerte sie sich vor allem zur Pandemie und den Lehren daraus. Europa müsse „souveräner“ werden, beispielsweise bei der Herstellung von Medikamenten und Impfstoffen, aber „auch im digitalen Bereich“. Das bedeute indes „keinesfalls Protektionismus“. Merkel regte vielmehr weitere Handelsabkommen der EU mit anderen Wirtschaftsräumen oder Staaten an. Zum Beispiel Indonesien: Die Verhandlungen darüber dauerten inzwischen fünf Jahre.

Export fast auf Vorkrisenniveau

Wie wichtig ein freier Welthandel für das Industrie- und Exportland Deutschland ist, machten sowohl Russwurm als auch Maschinenbau-Präsident Haeusgen anhand aktueller Konjunkturdaten deutlich. Vor allem wegen der steigenden Exporte geht es spürbar bergauf. „Für die Industrieproduktion erwarten wir ein kräftiges Plus von acht Prozent gegenüber dem Vorjahr“, sagte Russwurm. Die Industrie sei „der Stabilitätsanker der deutschen Wirtschaft“. Die Auftragseingänge lägen bereits über Vorjahres- und sogar Vorkrisen-Niveau. Allein in China erwartet der Bundesverband der Industrie (BDI) in diesem Jahr ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von acht Prozent. Vor allem deshalb erhöhte der BDI seine Exportprognose: Statt um sechs Prozent könnten die deutschen Ausfuhren nun um 8,5 Prozent zulegen. Damit gleichen die Unternehmen die Verluste aus 2020 zum Großteil aus; im ersten Coronajahr waren die Exporte um 9,3 Prozent gefallen. Wegen der dritten Coronawelle und des andauernden Lockdowns hierzulande reduziert der BDI aber seine Wachstumserwartung für Deutschland für 2021 von 3,5 auf drei Prozent.

Maschinenbauer wollen einstellen

Der Maschinenbau wird das locker übertreffen. Verbandschef Haeusgen zufolge erwarte man ein Produktionswachstum von sieben Prozent, bislang lag die Prognose bei vier Prozent. „Insbesondere die Aussichten für weiteres Wachstum in China und anderen asiatischen Ländern sowie den USA sind gut“, sagte Haeusgen. Die gute Auftragslage und die zunehmende Kapazitätsauslastung macht sich auch in den Belegschaften bemerkbar. Im vergangenen Jahr hatte die Branche, die mit rund 1,4 Millionen Beschäftigten den größten Industriebereich hierzulande bildet, rund vier Prozent der Arbeitsplätze abgebaut. Für das laufende Jahr gaben nun in einer aktuellen Umfrage 65 Prozent der Maschinenbauer an, ihren Personalbestand erhöhen zu wollen. Die Zahl der Kurzarbeiter sank im März auf rund 90 000 Personen.

Zu wenig Halbleiter für den Fahrzeugbau

Schwieriger als im Maschinenbau ist die Situation im Fahrzeugbau. Der Zusammenschluss der Zulieferer meldete am Montag „Bremssignale aufgrund der Lieferprobleme bei Elektronikbauteilen“. Die ursprünglich optimistischen Prognosen der Autohersteller für 2021 seien deshalb kaum zu halten. Der sich beschleunigende Trend zum E-Auto forciert die Nachfrage nach Halbleitern und elektronischen Steuerungselement: Im batterieelektrischen Fahrzeug werden fast doppelt so viele dieser Teile benötigt wie in einem Pkw mit Verbrennungsmotor.

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