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Katja Kipping, seit 2012 Parteichefin der Linken und seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages, in ihrem Berliner Büro.

© Mike Wolff

Verschwendung bei Hartz-IV-Maßnahmen: Jobcenter: Linke ruft Arbeitsminister Heil zur Ordnung

Linken-Chefin Katja Kipping hat den neuen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) aufgefordert, die Praxis in Jobcentern zu reformieren. Anlass ist ein kritischer Prüfbericht des Bundesrechnungshofes.

Die Prüfer hatten den Arbeitsagenturen und Jobcentern in einem internen Bericht an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen systematisch falschen Umgang und Geldverschwendung bei Maßnahmen für die Qualifizierung von Arbeitslosen vorgeworfen. Der Tagesspiegel hatte am Montag exklusiv darüber berichtet. Hochgerechnet auf alle Jobcenter dürfte ein jährlicher Schaden von rund 190 Millionen Euro entstehen, hieß es darin. Zudem haben frühere Recherchen offengelegt, wie Jobcenter-Mitarbeiter systematisch belohnt werden, wenn sie möglichst viele Arbeitslose in "Maßnahmen" vermitteln. Ob die "Kunden", wie Arbeitslosengeldbezieher in der Behörde genannt werden, diese Kurse für ihre persönliche Weiterentwicklung brauchen, ist offenbar Nebensache.

„Boni für Sanktionen - das Anreiz-System der Job-Center schafft Leiden auf beiden Seiten des Schreibtischs", sagte Linken-Chefin Katja Kipping am Montag dem Tagesspiegel. Die Beschäftigten würden dazu gedrängt, "zu tricksen und Erwerbslose zu drangsalieren." Um die Quoten zu erfüllen würden Hartz-IV-Beziehende von einer sinnlosen Maßnahme in die nächste gezwungen, das sei ineffektiv und zermürbend. "Arbeitsminister Hubertus Heil muss dieser Praxis einen Riegel vorschieben. Ziel der Arbeit in Jobcentern muss sein, Erwerbslosen eine Perspektive zu geben", forderte Kipping.

Die Parteichefin, die zudem sozialpolitische Sprecherin der Links-Fraktion im Bundestag ist, verwies darauf, dass im vergangenen Jahr fast 40 Prozent aller Klagen und Widersprüche gegen Hartz-IV-Sanktionen erfolgreich gewesen seien. "Das heißt, Menschen wurde rechtswidrig das ohnehin niedrige Arbeitslosengeld II gekürzt." Die berufliche Wiedereingliederung Langzeiterwerbsloser erfordere einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor mit sozialversicherungspflichtigen und anständig entlohnten Arbeitsplätzen. "Schließlich brauchen wir für alle Erwerbslosen endlich einen echten Rechtsanspruch auf Weiterbildung.“

Rechnungshof moniert eine "planlose" Verteilung in Kurse

Jobcenter organisieren und bezahlen bei privaten Bildungsträgern Kurse, in denen in der Regel Langzeitarbeitslose für den Arbeitsmarkt qualifiziert werden sollen. Der Rechnungshof hatte stichprobenartig die Vergabe und den Einkauf von 617 Plätzen in 35 Kursen untersucht und kam zu dem Urteil: In 182 Fällen war der Kurs „nicht Bestandteil einer auf den Einzelfall bezogenen Eingliederungsstrategie". In 212 Fällen hatten die Mitarbeiter die Arbeitslosen vor Beginn „nicht hinreichend über den mit der Zuweisung verfolgten Zweck" informiert. 30 Prozent der Teilnehmer hatten „bereits eine oder mehrere vergleichbare Maßnahmen absolviert".

Die Prüfer kamen zu dem Schluss, dass Jobcenter „planlos" Kurse verteilen: „Durch ihr nicht zielgerichtetes Vorgehen und die mangelnde Rücksichtnahme auf die Belange der Leistungsberechtigten haben die Jobcenter in einem erheblichen Teil der geprüften Fälle deren unverzügliche Eingliederung nicht gefördert, sondern sogar gefährdet", heißt es in dem Bericht.

Bei 33 Kursen hätten die Jobcenter mit den Anbietern zudem die Vergütung einer Mindestzahl an Plätzen vereinbart, unabhängig von der tatsächlichen Teilnehmerzahl. Diese vergütungspflichtigen Plätze seien nur zu 85 Prozent besetzt gewesen. Die Prüfer rechneten vor, dass dadurch – hochgerechnet auf alle Jobcenter – ein jährlicher Schaden von besagten rund 190 Millionen Euro entstehen dürfte.  Für zehn Kurse hätten die Jobcenter nicht einmal dokumentiert, wie sie den Bedarf an Plätzen ermittelt hatten. Der Rechnungshof attestierte den Jobcentern insgesamt eine „schwache Bedarfsanalyse".

Das Arbeitsministerium teilt die Kritik nicht

„Die Auffassung des BRH (Bundesrechnungshof, Anm.), dass Jobcenter in nennenswertem Umfang erwerbsfähige Leistungsberechtigte planlos in Maßnahmen zuweisen würden, wird durch das BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) weiterhin nicht geteilt", erklärte eine Sprecherin des Ministeriums auf Tagesspiegel-Anfrage am Montag. Seinerzeit erfolgte Rückfragen der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit bei den geprüften Jobcentern hätten ergeben, dass in der "weit überwiegenden Zahl der geprüften Fälle" entgegen der Wertung des Bundesrechnungshofes mit der Maßnahmezuweisung eine "konkrete individuelle Eingliederungsstrategie verfolgt wurde."

Hubertus Heil (SPD), der neue Bundesarbeitsminister, am Rednerpult im Bundestag während der Debatte um Arbeit und Soziales.

© Wolfgang Kumm/dpa

Es sei nicht auszuschließen, dass der Bundesrechnungshof aufgrund unzureichender Dokumentationen in den Jobcentern in seiner stichprobenartigen Prüfung zu seiner abweichenden Wertung gekommen ist, erklärte das Ministerium weiter. Lediglich für eine geprüfte Maßnahme wird der Befund des Bundesrechnungshofes geteilt, hieß es. Um welchen Kurs bei welchem Träger dies der Fall gewesen war, sagte das Haus von Minister Hubertus Heil nicht, erklärte aber, dass man mit der Bundesagentur für Arbeit "natürlich regelmäßig in engem Austausch über die Umsetzung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ sei.

Die Enthüllungen rund um Zustände der Jobcenter und ihren Sanktionsmöglichkeiten befeuern auch die Debatte um die Abschaffung von Hartz IV, die Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) angestoßen hatte. Er schlägt vor, das Arbeitslosengeld-II durch ein "solidarisches Grundeinkommen" zu ersetzen. Am Wochenende bekam er dafür Unterstützung von anderen prominenten Sozialdemokraten wie etwa der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Der Druck auf Parteifreund Hubertus Heil, das Thema im Bundeskabinett voranzutreiben, steigt.

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