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Frank Bsirske, Vorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft verdi.

© dpa/Jörg Carstensen

Verdi-Chef Bsirske im Interview: „Ein Nein der SPD-Mitglieder ist unvorstellbar“

Verdi-Chef Frank Bsirske über die Stärken des Koalitionsvertrags zwischen Union und SPD, die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst und seine Nachfolge.

Herr Bsirske, haben Sie Mitleid mit der SPD?

Etwas Mitgefühl schwingt schon mit. Dass die SPD momentan an Zustimmung verliert, ist ja auch nicht überraschend bei dem ganzen Hin und Her. Vom Scheitern Jamaikas wurde ja auch offenbar niemand mehr überrascht als die SPD.

Sie waren nicht überrascht?

Schon drei oder vier Wochen vorher konnte man von Verhandlern der Grünen große Skepsis hören, ob die FDP wirklich ernsthaft Jamaika wolle. Dennoch zeigte sich die SPD-Spitze unvorbereitet, als die Verhandlungen tatsächlich scheiterten.

Die SPD präferierte eine Minderheitsregierung, um in einer großen Koalition nicht noch tiefer zu sinken.

Warum sollte Angela Merkel sich von Kräften abhängig machen, die in den letzten Wochen versucht haben, sie anzuzählen? Und in Neuwahlen zu gehen ohne jede Machtoption, macht auch keinen Sinn. Sondierungen und Koalitionsverhandlungen waren vernünftig. Und tatsächlich hat der Vertrag große Stärken.

Ohne Bürgerversicherung, ohne Steuererhöhung für Reiche, ohne Ausschluss sachgrundloser Befristung?

Mit dem Wahlergebnis vom 24. September 2017 hat sich das gesamte Parteienspektrum nach rechts verschoben. Da kann man doch jetzt nicht so tun, als gelte es, das Programm einer SPD-Alleinregierung zu formulieren. Vor diesem Hintergrund kann sich das Erreichte in wichtigen Punkten durchaus sehen lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD- Mitglieder das nicht würdigen.

Und wenn die doch dagegen stimmen?

Ein Nein zur Koalition würde die Führung komplett demontieren, um dann anschließend in Neuwahlen zu gehen – das ist kein besonders attraktives Szenario.

Spielen die Folgen der Agenda 2010 heute noch in die SPD-Misere rein?

Ja. Wir werden ja Zeuge eines ausgeprägten Misstrauens der Parteibasis gegenüber der Spitze. Und da spielt auch eine Rolle, dass es bei vielen ein großes Bedürfnis danach gibt, das Copyright auf soziale Gerechtigkeit wieder zurückzugewinnen. Das war 2005 verloren gegangen. Die Merkel-CDU hat das ausgenutzt.

Und ist deshalb in absehbarer Zeit als stärkste Partei nicht zu schlagen?

Das will ich nicht sagen. Anfang 2017 hatte die SPD mit der Orientierung auf mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Land starken Zuspruch erfahren, das dann aber nicht klar konkretisiert und insgesamt zu zahm, zu mutlos und zu wenig mobilisierend agiert. Und das gegenüber einer CDU, der die schwarze Null als Kern ihres strategischen Projektes galt.

Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.

In einer Situation von Negativzinsen ist das Quatsch. Wenn der Staat bestimmte Anleihen auflegt, bekommt er nicht nur Geld, er verdient auch daran. Weil er weniger zurückzahlen muss, als er jetzt aufnimmt. Bessere Bedingungen kann es gar nicht geben, um den öffentlichen Investitionsstau anzugehen. Stattdessen will man privates Kapital mobilisieren, um in öffentliche Infrastruktur zu investieren. Und dabei Renditeerwartungen bedienen, die um ein Vielfaches höher sind, als wenn die Investitionen über Steuereinnahmen oder Kredite finanziert würden.

Der mutmaßliche nächste Finanzminister, Olaf Scholz, ist auch für die schwarze Null.

Mittlerweile hält selbst die Bundesbank die schwarze Null für falsch. Die nächste Regierung sollte nicht die Fehler der alten wiederholen.

Die Einnahmen reichen vermutlich für die milliardenschweren Ausgaben, wie sie im Koalitionsvertrag aufgeführt sind.

Mehr wäre besser. Schließlich sind Investitionen in die Zukunft Deutschlands ein Gebot der Stunde. Und auch mit dem, was jetzt an Mehrausgaben für Bildung, sozialen Wohnungsbau und öffentliche Infrastruktur vorgesehen ist, liegen wir deutlich unter dem, was notwendig wäre. Aber keine Frage – Fortschritte sind erkennbar: Bundesmittel für eine höhere Qualität in der frühkindlichen Bildung und Fortsetzung des Hochschulpaktes, die Stärkung des sozialen Wohnungsbaus und das Bemühen, Steuerschlupflöcher für die internationalen Konzerne zu schließen.

Wie weit reichen die geplanten 8000 zusätzlichen Pflegekräfte?

Das ist ein erster kleiner Schritt. Und positiv. Wie auch die Personaluntergrenzen für alle bettenführenden Stationen im Krankenhaus. Das wird ebenso wie die Personalbemessungsvorgaben in der Altenpflege zu konkretisieren sein. In einer ganzen Reihe wichtiger Handlungsfelder sind jedenfalls Signale gesetzt worden, denen man nun nachgehen muss, um ans Ziel zu kommen.

Also überwiegt bei Ihnen die Zufriedenheit mit dem Koalitionsvertrag?

Die Frage ist doch, ob sich die Lebensbedingungen in diesem Land für Millionen Menschen verbessern können. Daran muss das Ergebnis gemessen werden. Und sie werden sich verbessern, wenn der Vertrag umgesetzt wird.

Woher kommen denn die Leute für die ganztägige Grundschule, für das zusätzliche Personal in Kitas, Krankenhäusern und Altenpflege?

Die Arbeitsbedingungen in diesen Berufsfeldern müssen attraktiver werden. Soziale Arbeit darf nicht schlechter bezahlt werden als die Arbeit in einer Fabrik. Wir müssen viel mehr junge Menschen für eine Ausbildung in diesen Bereichen gewinnen, was nicht so einfach ist, denn es gibt ein viel größeres Angebot auf dem Arbeitsmarkt als vor zehn Jahren.

Also was tun?

Die Arbeitsbelastungen sind nicht mehr ein blinder Fleck für die Politik, das gilt auch für die materielle Aufwertung dieser Berufe. Die große Koalition will zum Beispiel von Verdi durchgesetzte Tarifsteigerungen im Krankenpflegebereich zu 100 Prozent refinanzieren. Das ist ein Schritt, den es bislang so nicht gab.

Wer im Krankenhaus arbeitet, wird oft krank wegen der Arbeitsbelastung.

Richtig. Deshalb kämpfen wir für Verbesserungen. In der Charité haben wir eine Personalaufstockung durchgesetzt, auch in der Uniklinik Gießen, wo 100 zusätzliche Krankenpflegekräfte eingestellt werden. Und in den anstehenden Tarifverhandlungen wollen wir drei zusätzliche freie Tage für Beschäftigte in Schicht und Wechselschicht erreichen.

Es wäre die Aufgabe von Verdi gewesen, in den vergangen zehn Jahren für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen.

Das ist eine Daueraufgabe. In der Krankenpflege haben wir 2016 Verbesserungen bei der Bezahlung erreicht. Und im Sozial- und Erziehungsdienst zweimal in wochenlangen Arbeitskämpfen wichtige Aufwertungsschritte durchgesetzt. Aber das kann man als Gewerkschaft erst dann schaffen, wenn sich die Beschäftigten gewerkschaftlich organisieren und auch bereit sind, für ihre Arbeitsbedingungen zu streiken. Von nichts kommt nichts.

In den Kitas gibt es viele Verdi-Mitglieder, in der Altenpflege nicht. Wie kommt das?

In den Kitas haben wir inzwischen so etwas wie ein „Facharbeiterbewusstsein“, ein Selbstverständnis als Erziehungsprofis. Damit einher geht ein Selbstbewusstsein für eine robuste Interessenvertretung bis hin zum Arbeitskampf. In der Altenpflege dagegen lebt die Tradition des Dienens und der Aufopferung noch fort. Damit korrespondiert auch eine gewisse Ferne zur Gewerkschaft. Aber auch diese Tradition kann verändert werden.

Wie denn?

Wir gehen gezielt in Altenpflegeeinrichtungen und sind in großen Häuser auch durchaus erfolgreich. Ein Hundertmeterlauf ist das aber in dieser Branche nicht, eher ein Langstreckenlauf.

Was kommt in der jetzt beginnenden Tarifrunde des öffentlichen Dienstes für die sozialen Dienste raus? Müssten nicht Anreize für Berufseinsteiger gesetzt werden, um das Nachwuchsproblem anzugehen?

Ja. Deshalb fordern wir auch weitere Verbesserungen bei der Ausbildungsvergütung. Und sechs Prozent, mindestens aber 200 Euro. Wir haben ja jetzt zum Teil außergewöhnlich gute Rahmenbedingungen. Ökonomen sprechen von „goldenen Zeiten“ für die deutsche Wirtschaft. Wir wollen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer daran teilhaben. In welchem Maße das gelingt, hängt am Ende aber auch vom Engagement der Beschäftigten ab. Und da stoßen wir auf den paradoxen Umstand, dass 80 Prozent der Bundesbürger Gewerkschaften für gut und richtig halten, viele daraus aber nicht den Schluss ziehen, der Gewerkschaft beizutreten.

Dann funktioniert offenbar das Marketing der Gewerkschaften nicht.

Wir müssen in der Tat den Sinn von Gewerkschaften von Neuem verdeutlichen. Wozu Gewerkschaften? Diese Frage müssen die Menschen für sich beantworten können. In den Gewerkschaften organisieren sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, um Konkurrenz untereinander zu vermeiden und so gemeinsam mehr zu erreichen als jeder für sich allein. Dazu ist Gewerkschaft da.

Herr Bsirske, Sie sind gerade 66 Jahre alt geworden, in anderthalb Jahren übergeben Sie Ihr Amt. Wo ist die Nachfolgerin?

Warten Sie es ab! Ich bin sicher, wir werden einen überzeugenden und ganz breit getragenen Übergang an der Spitze der Organisation erleben.

Das Gespräch führte Alfons Frese.

ZUR PERSON

Frank Bsirske (66) führt die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi seit ihrer Gründung im Jahr 2001. Zuvor war er Chef der ÖTV, eine der fünf Organisationen, die zu Verdi fusionierten. Bsirske, in Helmstedt geboren, studierte Politik und arbeitete unter anderem als Personalreferent in Hannover.

ÖFFENTLICHER DIENST

In Potsdam begannen am Montag die Tarifverhandlungen für mehr als 2,5 Millionen Beschäftigte beim Bund und bei den Kommunen. Verdi und Beamtenbund fordern sechs Prozent mehr Geld, mindestens aber 200 Euro, höhere Ausbildungsentgelte und mehr freie Tage für Beschäftigte in Schichtarbeit. Mit einem Tarifabschluss ist nicht vor Mitte April zu rechnen.

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