zum Hauptinhalt
Viele Jüdische Studierende beklagen ein fehlendes Verständnis der Hochschulen für ihre Traditionen.

© Ralf Hirschberger / DPA

Jüdisches Leben an den Hochschulen: Am Schabbat muss man sich nicht prüfen lassen

Die Grünen im Bundestag kritisieren fehlende Rücksicht auf jüdische Studierende – und pochen auf Religionsfreiheit.

Dass jüdisches Leben zu Deutschland gehört, ist ein Standardsatz vieler politischer Sonntagsreden. Oft aber stößt dieses Bekenntnis an Grenzen – auch an zahlreichen Hochschulen. So haben sich jüdische Studierende in den vergangenen Jahren immer wieder über eine fehlende Sensibilität bezüglich jüdischer Feiertage beschwert.

Der Vize-Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion (JSUD) Ruben Gerczikow zum Beispiel, beklagte vor kurzem, dass das halachische Arbeitsruhegebot am Schabbat und an hohen Feiertagen wie Jom Kippur, Pessach oder Rosch ha-Schana häufig auf Unverständnis stoße. Die Universität Heidelberg, die den jährlichen Test für medizinische Studiengänge (TMS) an bundesweit 50 Orten terminiert, hatte diesen stets auf einen Samstag gelegt.

Erst nach einer kritischen Intervention aus Politik und Zivilgesellschaft entschied man sich, auf Wunsch einen Ausweichtermin anzubieten.

Das Einhalten der Arbeitsruhe ist ein Grundrecht

„Das Einhalten der Arbeitsruhe an jüdischen Feiertagen unterfällt grundsätzlich dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes“, erklärte die Bundesregierung nun auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen zum Benachteiligungsschutz jüdischer Studierender. Die religiös motivierte Weigerung, an jüdischen Feiertagen, die ein Schreibverbot implizieren, Prüfungen abzulegen, kann demnach als die Ausübung des Grundrechts der Religionsfreiheit gelten.

Auch wenn die Exekutive hier lediglich die einschlägigen Urteile der ständigen Rechtsprechung bekräftigt, sei dieses Statement zu begrüßen, sagt der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck, Mitglied der Grünen und Lehrbeauftragter am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (Ceres) der Ruhr-Universität Bochum.

Zugleich aber sei es schade, dass das Bundesbildungsministerium und die Kultusministerkonferenz (KMK) bei Kritik an der Terminsetzung der Hochschulen ständig ihre fehlende Zuständigkeit betonten.

Änderung der Feiertagsgesetze

Dass der Hochschulausschuss der KMK den Unis jetzt empfiehlt, bei der Terminierung von Prüfungen und Examina auf die Belange religiöser Studierender Rücksicht zu nehmen, sei allenfalls ein erster Schritt, sagt Beck. Es gehe dabei nicht um Großzügigkeit oder Kulanz gegenüber als exotisch wahrgenommenen Befindlichkeiten, sondern um die Einhaltung von Grundrechten.

Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen) ist Lehrbeauftragter am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (Ceres) der Ruhr-Universität Bochum.
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen) ist Lehrbeauftragter am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (Ceres) der Ruhr-Universität Bochum.

© PICTURE ALLIANCE / DPA

„Es wäre eigentlich Zeit, dass die jüdischen Feiertage in den Feiertagsgesetzen aller 16 Länder aufgeführt werden und dass klargestellt wird, dass niemand am Schabbat und an diesen Tagen Prüfungen ablegen muss“, sagte Beck dem Tagesspiegel.

Dabei müsse man Pessach oder Jom Kippur ja nicht gleich zu gesetzlichen Feiertagen erklären. Vielmehr solle der stets beschworene Respekt gegenüber der jüdischen Religionsausübung bundesweit kodifiziert werden. „2021 feiern wir 1700 Jahre deutsch-jüdischer Geschichte – da wäre es doch langsam an der Zeit, die jüdische Tradition in Deutschland ernst zu nehmen.“

Unwissen über jüdische Traditionen

Aus der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Grünen wird deutlich, dass ihr die unterschiedlichen Regelungen der Länder bezüglich jüdischer Feiertage im Einzelnen gar nicht bekannt sind. Auch wenn die Bundesregierung aktuell keine direkten Steuerungsmöglichkeiten besitze, müsse sie sich für eine Vereinheitlichung des Regelungsgehalts in den verschiedenen Ländern stark machen, fordert auch Konstantin von Notz, Beauftragter für Religion und Weltanschauungen und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen. Die Unkenntnis der Bundesregierung an dieser Stelle sei bezeichnend, meinen Beck und von Notz.

Überhaupt herrsche in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft ein völliges Unwissen über die religiösen und kulturellen Praktiken des Judentums. Dass die örtliche Polizei offenbar nicht wusste, dass der rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge in Halle am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur stattfand, sei demnach wenig verwunderlich, sagt Beck.

„Oft wird das christliche Feiertagsverständnis auf die Feiertagspraxis anderer Religionen eins zu eins übertragen“, meint der Politiker und Wissenschaftler. Das spezifisch jüdische Arbeitsruhegebot werde dabei häufig nicht berücksichtig.

Antisemitische Stereotype

Tatsächlich legen die qualitativen Befunde aktueller Studien über Antisemitismus aus jüdischer Perspektive nahe, dass, wer die entsprechenden Ruhegebote einhält, in Deutschland schnell als „faul“, „selbstprivilegierend“ oder „rückständig“ gilt. Der Diskurs über die jüdische Religionsausübung verkoppelt sich so mit den in der Gesellschaft virulenten, antisemitischen Stereotypen.

Viele Jüdinnen und Juden beklagten, immer wieder auf Unwillen und fehlende strukturelle Möglichkeiten zu stoßen, wenn sie aufgrund eines Feiertages nicht zur Arbeit, zum Sport oder zur Prüfung kommen können, sagt Beck. „Solange sich Jüdinnen und Juden brav anpassen, gibt es keine Probleme. Wenn sie aber ihrer Tradition gemäß leben, ist es mit dem Lob der Vielfalt oft schnell vorbei.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false