
© Robert Reinhart
Elektrische Gedächtnisstütze: Äußerliche Hirnstimulation verbessert Sprachgedächtnis
Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend für zwei Arten von Gedächtnisleistungen. Doch Fachleute sehen Grenzen für den medizinischen Einsatz.
Stand:
An welchem Laufband kann man noch die Koffer abholen? Es wurde doch gerade durchgesagt. Und auf welchem Parkdeck hatte man das Auto vor dem zweiwöchigen Urlaub doch gleich abgestellt? Antworten liefert einerseits das so genannte „Arbeitsgedächtnis“ – für den eben durchgegebenen Gepäck-Hinweis. Das Langzeitgedächtnis anderseits speichert die Info für die Heimfahrt im eigenen Auto.
Diese Gehirnleistungen sind bei Menschen sehr unterschiedlich gut ausgeprägt und nehmen mit zunehmendem Alter tendenziell ab. Eine aktuelle Studie mit gesunden älteren Menschen zeigt nun, dass nicht-invasive elektrische Hirnstimulationen beide Arten der Gedächtnisleistung verbessern können.
So könnten angesichts der Alterung der Bevölkerung in vielen Ländern Menschen alltägliche Aktivitäten erleichtert werden, sagt ein Forschungsteam um Shrey Grover und Robert Reinhart von der Boston University. Elektrische Hirnstimulation an vier aufeinanderfolgenden Tagen konnte die Gedächtnisleistungen von Personen ab 65 Jahren für einen Monat steigern, berichten die Forschenden im Journal „Nature Neuroscience“.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Ein kitzelndes Gefühl auf der Kopfhaut
Für die Studie wurden elektrische Ströme über Elektroden in eine Kappe geleitet, die die 150 Teilnehmenden zwischen 65 und 88 Jahren trugen. Die Proband:innen berichteten übereinstimmend von einem kitzelnden Gefühl auf der Kopfhaut zu Beginn der Stimulation. Die Methode ist als transkranielle Wechselstromstimulation bekannt, die Hirnschwingungen anregen und dadurch die sogenannte Neuroplastizität begünstigen soll. Darunter versteht man erfahrungsbedingte Veränderungen des Gehirns, die die Grundlage des Lernens und des Gedächtnisses bilden.
Während der zwanzigminütigen Behandlungen hörten die Probandinnen und Probanden Listen mit 20 Wörtern, die sie sich einprägen sollten. Die Forschenden zielten mit zwei unterschiedlichen Stimulationsfrequenzen auf zwei Hirnregionen ab: Die Stimulierung des Unteren Scheitelllappens mit einer Frequenz von vier Hertz verbesserte den Abruf der Wörter am Ende der Liste – ein Hinweis auf die Speicherung im Arbeitsgedächtnis. Die Stimulierung des dorsolateralen präfrontalen Kortex mit 60 Hertz begünstigte den Abruf der Wörter am Anfang der Liste – was auf eine Verankerung im Langzeitgedächtnis deutet.
Die Teilnehmer mit den niedrigsten kognitiven Leistungen zu Beginn der Studie profitierten am meisten von der Hirnstimulation. Weitere Untersuchungen sollen zeigen, ob die erfassten Wirkungen über einen Monat hinaus anhalten. Das Autorenteam regt an, neben den möglichen Vorteilen für gesunde, ältere Erwachsene auch die Auswirkungen auf Menschen mit neuropsychiatrischen und neurodegenerativen Erkrankungen zu untersuchen.
„Ein wenig praktikabler Einsatz für die Klinik“
„Der experimentelle Ansatz ist nicht komplex“, sagte Wolf-Julian Neumann, Neurologe von der Berliner Charité dem Science Media Center Deutschland (SMC). In Zukunft könnten solche Technologien möglicherweise auch zu Hause eingesetzt werden. „Allerdings lässt sich aus dieser Studie derzeit kein direkter therapeutischer Ansatz ableiten, da die gezeigte Wirkung sehr spezifisch und klein ist.“. Sie beschränke sich auf die Wiederholung vorgelesener Wörter. Und der Effekt sei nur für das Lernen während der elektrischen Stimulation nachgewiesen.
Johannes Levin vom Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen stellt den Sinn, kognitiv Gesunde per elektrischer Hirnstimulation zu behandeln, infrage. Die Studienautoren erzielten zwar bemerkenswerte Ergebnisse im Bereich der Sprachgedächtnisleistung, allerdings ähnele dies „in diesem Setting eher einer Hirnleistungsoptimierung als einer echten Therapie“, so Levin gegenüber dem SMC. Die Autoren hätten zudem nicht untersucht, ob sich die Lebensqualität der Probandinnen und Probanden verbesserte.
„Meines Erachtens ist das ein wenig praktikabler Einsatz für die Klinik“, sagt Paul Lingor, Neurologe an der Technischen Universität München. Man könnte fragen, ob kognitives Training herkömmlicher Art nicht gleich effektiv oder besser ist und zusätzlich andere positive Effekte hätte.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: