zum Hauptinhalt
Der Senat wagt etwas Neues: Gleichstellungspolitik wird erstmals verbindlich auf die Realitäten der postmigrantischen Gesellschaft bezogen.

© picture alliance/dpa

Umstrittener Vorschlag der Sozialsenatorin: Berlin braucht eine Antirassismusquote, keine Migrantenquote

Die Sozialsenatorin beweist mit ihrem Vorschlag Mut, er ist aber unausgegoren. Eine "Antirassismusquote" wäre juristisch erfolgversprechender. Ein Gastbeitrag.

Urs Lindner ist Philosoph am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und arbeitet an einer Habilitation zum Thema „The egalitarian justification of affirmative action“.

Im Zuge der Novellierung des Berliner Integrationsgesetzes, das in Zukunft Partizipationsgesetz heißen soll, wird derzeit vor allem über die geplante „Migrantenquote“ diskutiert. Mit dieser Maßnahme soll der öffentliche Dienst aus einem Besitzstand der Mehrheitsgesellschaft in einen Apparat verwandelt werden, der „Menschen mit Migrationshintergrund“ gemäß ihrem Anteil an der Berliner Gesamtbevölkerung beschäftigt – derzeit sind das circa 35 Prozent.

Damit wagt der Senat etwas Neues, da Gleichstellungspolitik erstmals verbindlich auf die Realitäten der postmigrantischen Gesellschaft bezogen wird.

Der Mut, den Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) mit der „Migrantenquote“ beweist, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Vorhaben unausgegoren und in Teilen rückschrittlich ist. Das zentrale Problem hat der Berliner Migrationsrat bereits in aller Deutlichkeit dargelegt.

Ein Kriterium, das über -und unterinklusiv zugleich ist

Das Kriterium des „Migrationshintergrundes“ ist zugleich über- und unterinklusiv: überinklusiv, da es auch Personen begünstigt, die in der Regel nicht diskriminiert werden, wie den aus der Schweiz stammenden weißen Juristen, dem in Berlin sämtliche Türen offenstehen. Unterinklusiv, da viele von Rassismus betroffene Menschen außen vor bleiben: Migrant*innen ab der dritten Generation, langheimische Afrodeutsche, Sinti*zze und Rom*nja sowie jüdische Menschen. „Das Problem heißt Rassismus“, so Koray Yilmaz-Günay vom Migrationsrat.

Was Deutschland und seine Hauptstadt brauchen, ist keine „Migrantenquote“, sondern eine Antirassismusquote. Die Sichtweise des Migrationsrates lässt sich mit der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dahin gehend pointieren, dass das Kriterium „Migrationshintergrund“ durch „strukturell von Rassismus gefährdete Gruppen“ ersetzt werden muss.

Bisher sträubt sich der rot-rot-grüne Senat gegen die zivilgesellschaftliche Expertise. In Reaktion auf die Kritik des Migrationsrats hat Elke Breitenbach Rassismusbetroffenheit zu einer „Selbsteinschätzung“ erklärt, die bei der Stellenvergabe juristisch folgenlos bleiben müsse.

Stellungnahmen ignorieren Antidiskriminierungsgesetze

Innensenator Andreas Geisel (SPD) hält die „Migrantenquote“ seiner Kollegin gar für verfassungswidrig: „Unser Grundgesetz sagt, niemand darf bevorteilt oder benachteiligt werden aufgrund seiner Herkunft, seines Geschlechts, seiner Ethnie oder Sexualität. Wir haben das bei Frauen und Menschen mit Behinderungen über Gesetze ergänzt. Das sind aber harte Kriterien! Der Migrationshintergrund ist eine freiwillige Angabe – wir kommen da über eine Orientierungsgröße nicht hinaus.“

Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) will eine Migrantenquote für den öffentlichen Dienst einführen.
Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) will eine Migrantenquote für den öffentlichen Dienst einführen.

© Carsten Koall/dpa

Bemerkenswert an beiden Stellungnahmen ist, dass sie die Antidiskriminierungsgesetze sowohl des Bundes als auch des Landes ignorieren. In Paragraf 5 und 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes – das Berliner Landesgesetz hat ähnliche Formulierungen – heißt es, dass bei „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft“ eine „unterschiedliche Behandlung“ „zulässig“ ist, „wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile verhindert oder ausgeglichen werden sollen.“

Rassistische Diskriminierung ist ein juristischer Tatbestand, der bei der Stellenvergabe einen Nachteilsausgleich begründen kann. In einem jeden gerichtlichen Prüfverfahren wird sich „strukturell von Rassismus gefährdete Gruppen“ als geeignetere Kategorie erweisen als „Migrationshintergrund“.

Innensenator Geisel auf Kollisionskurs mit dem Bundesverfassungsgericht

Artikel 3, Absatz 3, Satz 1 des Grundgesetztes lautet: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Innensenator Geisel versteht das Diskriminierungsverbot offenbar „symmetrisch“, als ob es sich gleichermaßen gegen rassistische Benachteiligungen und gegen antirassistische, dem strukturellen Benachteiligungsabbau dienenden Bevorzugungen richten würde.

Damit befindet er sich auf Kollisionskurs nicht zuletzt mit dem Bundesverfassungsgericht. In ihrem bahnbrechenden Urteil zur „dritten Option“ vom Herbst 2017 haben die Karlsruher Richter*innen klargestellt, dass sie eine solche „symmetrische“ Sichtweise ablehnen: „Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen.“

Aus der gerechtigkeitstheoretischen Debatte um „affirmative action“ (deutsch: „positive Maßnahmen“), die seit fünf Jahrzehnten vor allem in der US-amerikanischen politischen Philosophie geführt wird, lassen sich vier starke Argumente für die Antirassismusquote gewinnen.

Diskriminierung proaktiv entgegenwirken

Erstens wirkt die Quote rassistischer Diskriminierung bei der Stellenvergabe prospektiv entgegen. Zweitens erhöht sie die Chancengleichheit, da sie Bildungsungerechtigkeiten teilweise kompensiert. Drittens setzt sie das wichtige Anerkennungssignal, dass der Staat Minderheitenangehörige auch in seinem eigenen Apparat als gleiche Bürger*innen willkommen heißt. Viertens sorgt sie dafür, dass die Perspektiven von Rassismusbetroffenen in staatliche Entscheidungsprozesse eingehen (auch auf den unteren Ebenen der Verwaltung wird ziemlich viel entschieden, da Normen und Direktiven ihre Anwendung nicht determinieren).

Sicherlich, der Weg zur Antirassismusquote ist herausfordernd. Zunächst wäre zu bestimmen, welche Gruppen in Deutschland strukturell von Rassismus gefährdet sind. Der Berliner Senat könnte damit der Republik den Dienst erweisen, endlich eine sinnvolle und vor allem andauernde öffentliche Debatte über Rassismus in Gang zu setzen.

Sodann müsste der Staat seine fadenscheinige Weigerung aufgeben, Daten über Rassismusbetroffenheit zu erheben, wobei der „Afrozensus“ ein Erfahrungsschatz sein dürfte. Schließlich wäre ein Mechanismus zu finden, der Individuen den relevanten Gruppen zuordnet. Nach der Logik der Bürokratie – es gibt gute Gründe, diese zu kritisieren – könnten das zum Beispiel Minderheitenzertifikate sein, die Rechtsansprüche begründen und die Individuen beantragen können, jedoch nicht müssen. Wie ein solcher Mechanismus am besten, d.h. stigmatisierungsfrei, zu designen ist, kann sich nur in einem gemeinsamen Deliberationsprozess von Senatsverwaltung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft herausstellen.

Einen ähnlichen Vorschlag gab es bereits vor 150 Jahren

Ein Blick über den deutschen Tellerrand zeigt, dass die Forderung nach einer Antirassismusquote nicht ganz neu ist: Sie feiert dieses Jahr ihren 150. Geburtstag. Im Sommer 1871 – mitten in der „Reconstruction“ der USA, der Zeit nach Abschaffung der Sklaverei und vor Einführung des Terrorregimes der Segregation – schrieb Martin Robison Delany, der ranghöchste Schwarze Offizier während des Bürgerkriegs, einen Brief an Frederick Douglass, den einflussreichsten afroamerikanischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts.

Darin forderte Delany eine proportionale Repräsentation Schwarzer Menschen in sämtlichen Berufen. Für den „moderaten“ Douglass war das zu viel – er versuchte in seiner Antwort Delanys Vorschlag ins Lächerliche zu ziehen; mit einer ganz ähnlichen Rhetorik im Übrigen wie Senator Geisel heute („Warum brauchen wir eine Quote für die Gärtnerei?“). Hätte sich Douglass Delany angeschlossen, hätte das alleine sicherlich nicht die nahende Welle des jahrzehntelangen rassistischen Terrors aufgehalten. Hätte es jedoch viele Martin Delanys gegeben und wären diese von den damaligen Republikaner*innen, „Lincolns Partei“, konsequent unterstützt worden, die Weltgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen.

Urs Lindner

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false