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Ein älterer Mann geht zu einem Seniorenheim in Schweden.

© Jonathan Nackstrand/AFP

Corona-Tote in Schweden: Jeder Zweite hat zuvor in einem Seniorenheim gelebt

Die Zahl der Toten in Schweden klettert auf mehr als 3000. Rund die Hälfte der Verstorbenen war älter als 70 und pflegebedürftig.

Schweden hat in der Coronavirus-Krise eine neue traurige Marke erreicht: Nach Angaben der staatlichen Gesundheitsbehörde stieg die Zahl der Patienten, die in Verbindung mit einer Covid-19-Erkrankung gestorben sind, am Donnerstag um 99 auf 3040. „Dies ist eine schrecklich große Zahl“, hatte der Staatsepidemiologe Anders Tegnell, der die schwedische Regierung berät, bereits am Vortag gesagt.

Das Land verzeichnet pro eine Million Einwohner mit fast 289 Todesfälle deutlich mehr als beispielsweise die Nachbarländer Norwegen, Dänemark oder Finnland. Auch im Vergleich mit Deutschland (87,7) liegt die Sterberate mehr als dreimal so hoch. Mit 1604 Verstorbenen kommt mehr als die Hälfte aus der Region der Hauptstadt Stockholm.

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Dass besonders ältere Menschen und Patienten mit Vorerkrankungen besonders gefährdet sind, von schweren Verläufen einer Covid-19-Erkrankung betroffen zu werden oder zu sterben, war in der Pandemie relativ frühzeitig klar. Im Falle Schwedens, dessen Bevölkerung im internationalen Vergleich als insgesamt vergleichsweise gesund gilt, kristallisiert sich immer klarer heraus, dass eines der größten Probleme des Landes in der Coronavirus-Krise der mangelnde Schutz älterer Pflegebedürftiger ist.

90 Prozent aller Coronavirus-Toten waren älter als 70 Jahre

Von den rund 10,2 Millionen Schweden sind nach Angaben des Sozialministeriums 1,5 Millionen älter als 70 Jahre. Davon leben etwa 79.000 in Heimen, 192.000 werden demnach von Pflegediensten betreut. Bis Ende April waren 90 Prozent aller Patienten, die in Schweden in Verbindung mit Covid-19 verstorben waren, älter als 70 Jahre. Insgesamt waren es zu diesem Zeitpunkt 1877 Frauen und Männer. Die Hälfte davon (948) lebte in Heimen, während 26 Prozent (493) durch Pflegedienste betreut wurde. Insgesamt muss also davon ausgegangen werden, dass von den nun mehr als 3000 Toten im Land mehr als die Hälfte pflegebedürftige Menschen waren.

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Das Ziel, ältere Menschen in der Pandemie zu schützen, sei gescheitert, hatte Ministerpräsident Stefan Löfven bereits zuvor zugegeben. Ein Besuchsverbot in Heimen war beispielsweise erst am 1. April eingeführt worden. Zu spät, wie Kritiker monieren. Die Regierung hatte sich bisher bei der Frage, wieso die Einrichtungen so schwer vom Coronavirus betroffen sind, zurückhaltend geäußert. Dies müsse nach der Krise untersucht werden, lautet die Standardantwort. In Kürze soll die Gesundheitsbehörde eine erste Analyse vorlegen.

Anzahl der Verstorbenen/bestätigten Infektionen pro eine Million Einwohner (Stand Donnerstag, 7. Mai, 14 Uhr; Quelle Sveriges Television/Johns Hopkins Universität/Worldometer)

  • Schweden: 289/2349
  • Norwegen: 41/1505
  • Dänemark: 87/1748
  • Finnland: 46/1010
  • Island 28/5088
  • Deutschland: 88/2028
  • USA: 224/3462
  • Italien: 491/3549
  • Spanien: 553/4715
  • Großbritannien: 453/3044
  • Frankreich: 385/2601
  • Südkorea: 5/209
  • Belgien 730/4446

Sozialministerin Lena Hallengren hatte allerdings bereits angedeutet, dass die vielen Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter, die in der Branche ohne feste Verträge arbeiten, eine Rolle dabei spielten, dass sich das Virus so stark ausgebreitet habe. Diese würden jeden Tag andere Ältere versorgen und könnten es sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben, wenn sie etwas krank werden. Auf keinen Fall zur Arbeit zu gehen, ist neben Abstand zu halten und regelmäßig die Hände zu waschen die Hauptbotschaft, die besonders der Epidemiologe Tegnell den Schweden beinahe täglich vorbetet.

Schwedens Ministerpräsident: der Sozialdemokrat Stefan Löfven.
Schwedens Ministerpräsident: der Sozialdemokrat Stefan Löfven.

© Fredrik Sandberg/ TT News Agency / AFP

Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Privatisierungstendenzen in der Pflegebranche zu erhöhtem Druck, mehr Stress für die Pflegerinnen und Pfleger und schlechter Koordination geführt haben und so die Ausbreitung des Coronavirus beeinflusst hätten. Unbestritten ist zudem, dass auch in Schweden Schutzausrüstung für das Personal im Gesundheitswesen fehlte. Löfven, der eine rot-grüne Minderheitsregierung führt, zeigte sich am Donnerstag alarmiert: „Wir müssen die Bedingungen in der Altenpflege verbessern“, sagte er der Zeitung „Dagens Nyheter“ (DN).

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Löfven machte im Gespräch mit DN deutlich, dass er der Ansicht sei, Privatisierungen des öffentlichen Sektors seien nötig, allerdings müsse man sich Gedanken über die Kontrolle machen. Mit Blick auf die Situation in der Pflege sagte er: „Wir sehen, dass es schwierig ist, dass so eine wichtige Branche funktioniert, wenn zu viele Menschen Zeit- oder Vertretungsstellen haben.“ Es sei „klar“, dass die Bedingungen für das Personal in der Pflege verbessert werden müsste, sagte Löfven.

Schweden hält in Coronavirus-Krise an Strategie fest

Gemeinsam mit Regierungsberater Tegnell hält der Sozialdemokrat aber an der schwedischen Strategie fest und setzt neben vergleichsweise wenigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens darauf, dass sich die Bürger freiwillig an die Empfehlungen und Vorgaben der Gesundheitsbehörde halten.

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Die Regierung setzt auf die Vernunft der Schweden, mahnt, soziale Kontakte zu minimieren. Menschen über 70 sollen zu Hause bleiben. Kindergärten, Grundschulen und Geschäfte sind geöffnet. Dies gilt unter Auflagen auch für die Gastronomie. Versammlungen sind bis zu 50 Personen erlaubt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht in Schweden inzwischen ein Vorbild für andere Staaten, um aus einem Lockdown wieder herauszukommen.

Premier hatte Anfang April von Tausenden Toten gesprochen

Dieser Ansatz hat international Irritationen und Kritik ausgelöst. Auch im Land ist der Kurs der schwedischen Regierung längst nicht unumstritten; schon seit einiger Zeit fordern zahlreiche Wissenschaftler einen radikalen Kurswechsel. Löfven hatte zum zu erwartenden Ausmaß der Pandemie am 3. April DN gesagt, Schweden verfolge die Strategie, den Anstieg der Infektionsfälle zu verzögern, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. „Aber das beinhaltet zugleich, dass wir weitere Schwerkranke haben werden, die Intensivpflege benötigen, wir werden bedeutend mehr Tote haben. Wir werden mit Tausenden Toten rechnen müssen. Darauf sollten wir uns einstellen.“

Hintergründe zum Coronavirus:

Vor knapp einer Woche hatte Tegnell den Schweden dann Hoffnung gemacht. Im schwedischen Sender SVT sagte er, die wichtige sogenannte Reproduktionszahl liege seit einigen Tagen unter 1,0. „Das bedeutet, dass die Pandemie allmählich abebben wird“, erklärte Tegnell. Noch ist es zu früh für Aussagen, ob sich dieser Trend tatsächlich bestätigt.

Der Staatsepidemiologe Anders Tegnell berät die Regierung.
Der Staatsepidemiologe Anders Tegnell berät die Regierung.

© Jonathan Nackstrand/AFP

Die internationalen Vergleiche der Infektionszahlen beinhalten mindestens das Problem, dass unterschiedlich viel getestet wird. Schweden hat die Kapazitäten zwar inzwischen deutlich ausgeweitet, aber insgesamt noch vergleichsweise wenig getestet.

Relativ wenige Tests auf Coronavirus in Schweden

Deutschland hat der Statistikseite Worldometer zufolge bereits insgesamt 2.755.770 Tests durchgeführt, dies entspricht 32.891 Tests pro eine Million Einwohner. In Schweden sind es insgesamt 148.500 Tests und damit 14.704 pro Million Einwohner. Deutlich mehr getestet als in Schweden wurde auch in Dänemark und Norwegen, etwas mehr in Finnland. Enorm viel hat Island getestet.

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Tegnell erwartet, dass sich die Zahlen – auch der Todesfälle – international angleichen werden. Schweden werde mit Freiwilligkeit genauso viel erreichen wie andere Länder mit scharfen Restriktionen. Man brauche nachhaltige Maßnahmen und dürfe nicht vergessen, dass strenge Verbote auch gesundheitliche Folgen haben, hatte er immer wieder betont. Isolation und Quarantäne könnten Langzeitschäden an Körper und Geist auslösen.

Epidemiologe Tegnell gegen Lockdown für Schweden

Zudem ließen sich Schwedens Maßnahmen problemlos lange durchhalten – eine zweite Infektionswelle brauche man nicht zu befürchten. Man müsse auch die Wirtschaft im Blick haben. Die ist allerdings auch in Schweden durch die Pandemie hart getroffen.

Massenhafte Kontaktsperren führten nur dazu, dass das Virus im Herbst wieder massiv auftreten werde, argumentiert Tegnell. Er geht davon aus, dass in Schweden bereits mehr Menschen immunisiert seien in Ländern, die sich für einen Lockdown entschieden hatten.

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Dies beruht allerdings auf der Annahme, dass Menschen, die bereits eine Coronavirus-Infektion hatten, tatsächlich immun sind. Dies ist wissenschaftlich noch nicht abschließend belegt. Tegnell sagt: „Wir sind noch lange nicht am Ende der Straße angekommen, deshalb wissen wir nicht, wie das Endergebnis aussehen wird.“

Zu der hohen Zahl der Todesfälle unter Senioren sagte Tegnell dieser Tage in einem Online-Interview in der amerikanischen TV-Sendung Daily Show, die vielen Toten seien für seine Behörde eine Überraschung gewesen. „Wir sind sehr besorgt über die Zahl der Todesopfer. Wir haben sie nicht in Kauf genommen.“ Niemand in Schweden habe zunächst damit gerechnet, dass das Virus derart in den Senioren- und Pflegeheimen wüten könnte und betagte Menschen „so extrem anfällig“ sein würden.

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