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Beeindruckendes Sozialverhalten. Eine Tankerbiene gibt einer erschöpften Heizerbiene einen Honigkuss.

© Ingo Arndt Photography

Das geheime Leben der Wildbienen: „Im Bienenvolk gibt es keine Verlierer“

Ingo Arndt fotografierte die Insekten erstmals in der Natur. Seine Bilder zeigen bislang ungesehene Szenen – und lösen Rätsel auf.

Von Aleksandra Lebedowicz

Gleich nach Einzug in die verlassene Schwarzspechthöhle wird das neue Zuhause eingerichtet. Die Wachsdrüsen der Arbeitsbienen laufen beim Wabenbau auf Hochtouren. Die genauen Vorgänge bleiben verborgen, so dicht beisammen sitzen die braunschwarz gestreiften Insekten an der Decke. Erst nach einigen Tagen kommen zwischen den unzähligen Körpern schneeweiße Konstruktionen zum Vorschein. Perfekt geformt, wie aus einem 3-D-Drucker fließend, wachsen sie allmählich nach unten. Zeitgleich sind weitere Mitbewohnerinnen mit hobeln beschäftigt. Dabei raspeln sie mit ihren Mundwerkzeugen, den sogenannten Mandibeln, unermüdlich über die Innenseiten der Baumhöhle.

„Seit Jahrzehnten gab dieses Verhalten Imkern Rätsel auf“, sagt Jürgen Tautz, emeritierter Biologieprofessor und Verhaltensforscher am Biozentrum der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg, der sich intensiv mit Honigbienen beschäftigt. „Nun wurde es gelöst“, sagt er stolz. Was auf den gehobelten Brettern der Beute – so heißt in der Imker-Fachsprache die Behausung für die fleißigen Pollensammler – seltsam erscheint, macht in Baumhöhlen schlagartig Sinn. Denn dort erfüllt das Reinigen der Wände eine wichtige Funktion. Zunächst tragen die Bienen lose Partikel, Pilze und andere Mikroorganismen ab. „Wie professionelle Tapezierer“, sagt Tautz. Sind die Wände glatt und sauber, folgt eine dünne Schicht aus Propolis, einer harzartigen Masse, die desinfizierend wirkt. So entsteht ein gesundes Klima mit optimaler Luftfeuchtigkeit.

Honigbienen sind eigentlich Waldtiere

Dass viele dieser bisher noch unergründeten Geheimnissen gelüftet werden, ist Ingo Arndt zu verdanken. Zwei Jahre lang hielt der gebürtige Hesse das mysteriöse Treiben der natürlich nistenden Völker von Apis Mellifera, der Westlichen Honigbiene, mit seiner Kamera fest.

Honigbienen sind Waldtiere. Erstaunlicherweise wurden sie nie zuvor in der Natur beobachtet“, sagt der preisgekrönte Tierfotograf. Seit beinahe 30 Jahren reist er auf der Jagd nach spektakulären Motiven um die Welt. Er porträtierte Grizzlybären an der Pazifikküste Alaskas, stand Auge in Auge mit Alligatoren in den Everglades im Süden Floridas und durchstreifte Patagonien, um Pumas vor die Linse zu bekommen. Sieben Monate lang hat er die Raubtiere fotografiert und dachte damals, nichts werde diese Geschichte jemals toppen können.

Anflug auf ein Bienennest in einer verlassenen Schwarzspechthöhle 20 Meter hoch über dem Waldboden.
Anflug auf ein Bienennest in einer verlassenen Schwarzspechthöhle 20 Meter hoch über dem Waldboden.

© Ingo Arndt Photography

Bis er wenig später zwei junge Biologen bei der Forschung im Nationalpark Hainich in Thüringen begleitete und die wilden Bienen hautnah erlebte. „Das sind oft Völker, die Züchtern entkommen sind, obwohl die alles tun, um das zu vermeiden“, erzählt er. Gelingt die Flucht, sucht sich der Schwarm eine neue Heimat im Wald. Arndt war von den kleinen Rebellen auf Anhieb begeistert. Da blieb eigentlich nur noch die Frage: Wie fotografiert man sie in 20 Metern Höhe?

Die Lösung kam per Schwertransport aus dem Steigerwald – eine umgefallene Buche mit einer leeren Spechthöhle. Ideal, um sie als Bienenwohnung im heimischen Garten im hessischen Langen aufzustellen, natürlich mit der dafür nötigen Genehmigung. Hintendran baute Arndt noch eine Beobachtungshütte mit abnehmbarem Glasfenster zum Fotografieren, installierte Rotlicht, das die Bienen nicht sehen, und schaute neugierig zu. Stundenlang. Dutzende Tage habe er dort verbracht, im heißen Sommer fürchterlich geschwitzt.

Viele Kolonien scheitern bei der Baumbesiedlung

Die Besiedlung der Höhle ist eine höchst kritische Phase. Die meisten Kolonien schaffen es nicht, erfolgreich Fuß zu fassen. „Das war auch meine größte Angst“, sagt Arndt. Umso glücklicher war er, als es im vergangenen Jahr klappte. Ab Mai summte es in der Höhle.

Dicht an dicht. Im Inneren einer Baumhöhle bilden die Waben den Lebensmittelpunkt.
Dicht an dicht. Im Inneren einer Baumhöhle bilden die Waben den Lebensmittelpunkt.

© Ingo Arndt Photography

Seitdem machte Arndt viele spannende Entdeckungen. Er beobachtete, wie die Bienen Pollen aufbewahren, fein nach Farben sortiert, ihre Königin putzen, füttern, ihr sogar den Kot abnehmen. Wie sie im Brutnest heranwachsen, schlüpfen, sich sauber halten – und ihre größten Feinde, die Hornissen, im Bienennest „kochen“. Die fleischfressenden Eindringlinge werden dabei weder gebissen noch gestochen, sondern in einer Art Kugel aus lebenden Heizerbienen eingeschlossen und zu Tode beheizt.

„Süße Küsse für heiße Bienen“

Neben solchen martialischen Szenen gab es im Nest auch durchaus berührende Momente. Zum Beispiel mit den sogenannten Tankerbienen, die erschöpfte Heizerbienen mit Honig versorgen. Dieses Verhalten hat Tautz’ Doktorandin Rebecca Basile vor Jahren entdeckt. „Sie nannte den entsprechenden Kapitel ihrer Dissertation augenzwinkernd ,Süße Küsse für heiße Bienen‘“, erzählt der Biologe.

Die Königin mit ihrem Hofstaat. Arbeitsbienen nehmen ihr sogar den Kot ab.
Die Königin mit ihrem Hofstaat. Arbeitsbienen nehmen ihr sogar den Kot ab.

© Ingo Arndt Photography

Arndt konnte viele solche Rituale einfangen. Währenddessen unterhielt er quasi eine Standleitung zu Jürgen Tautz. „Um Gottes Willen, fotografier, so viel du kannst, das hat noch nie jemand gesehen“, riet der Bienenexperte. Und Arndt fotografierte. Am Ende sind für das Projekt mehr als 80 000 Aufnahmen entstanden. Um die beweglichen Fluginsekten abzulichten, waren Lupenobjektive und Blitzgeräte im Einsatz. Der Fotograf scheute keinen Aufwand, baute sogar einen speziellen Flugtunnel mit Lichtschranke für seine „Haustiere“.

Ingo Arndt hat in seinem Garten eine Beobachtungshütte gebaut und unbekannte Szenen aus dem Bienenalltag dokumentiert.
Ingo Arndt hat in seinem Garten eine Beobachtungshütte gebaut und unbekannte Szenen aus dem Bienenalltag dokumentiert.

© Ingo Arndt Photography

Und wie schmeckt der Honig von wilden Bienen?

Heute leben die Bienen immer noch in seinem Garten. „Ich mache weiter“, sagt Arndt. Kaum war das Buch fertig, kamen Anfragen von Fernsehsendern und Produktionsfirmen. Vor drei Wochen fing er mit dem Filmen an. Viel Tüftelei, aber das habe er gern.

Wasserholerinnen tanken auf für den Einsatz als Klimaanlage in ihrem Nest.
Wasserholerinnen tanken auf für den Einsatz als Klimaanlage in ihrem Nest.

© Ingo Arndt Photography

Was passiert eigentlich mit dem Honig? „Ich ernte nicht wie der Imker mit der Schleudermaschine“, erklärt Arndt. Wenn er die Bienen kontrolliere, schneide er einfach ein Stück Waben ab und beiße rein. Und, schmeckt‘s? „Klar, sehr gut sogar!“, sagt er. Der Geschmack sei sehr divers, das merke man alleine schon an den Pollen. Wenn die Sammelbienen ein großes Spektrum an Pflanzen und Blüten besuchen können, haben die Pollenladungen alle möglichen Farben.

Ein Bienenvolk funktioniert wie ein Gehirn

„Mit Bienen kann man wirklich alle Menschen packen, das ist unglaublich!“, sagt Jürgen Tautz. Besonders von den wildlebenden Völkern könnten wir Einiges lernen. Nahrung und Energie würden dort stets gleich verteilt, unabhängig von der geleisteten Arbeit. „Im Bienenvolk gibt es keine Verlierer“, sagt Tautz. Keine einzige Biene darf verhungern.

Biologe und Verhaltensforscher Jürgen Tautz
Biologe und Verhaltensforscher Jürgen Tautz

© Ingo Arndt Photogrphy

Was ihn im Baum besonders überraschte, war die Tatsache, dass sich ein großer Teil der Arbeiterinnen mit den Beinen verhakt und unterhalb der Waben quer durch den ganzen Baum ein flexibles Netz bildet. Der so entstandene „Sack“ kann je nach Bedarf weit- oder engmaschig sein. Eine mögliche Erklärung sei, dass es zur Regulierung des Klimas und der Temperatur in der Höhle diene.

„Im Grunde funktioniert ein Bienenvolk wie ein Gehirn, in dem alle Zellen miteinander verbunden sind“, sagt Tautz. Im Bienenstock werde immer gleichmäßig temperiert. Besonders im Brutbereich liege die Temperatur ständig bei 35 Grad Celsius. „Das ist irre, denn es entspricht fast genau der menschlichen Körpertemperatur“, sagt der Experte.

Facettenaugen, Fühler und Sinneshaare helfen der Honigbiene (Apis Mellifera) ihre Alltagsaufgaben zu bewältigen.
Facettenaugen, Fühler und Sinneshaare helfen der Honigbiene (Apis Mellifera) ihre Alltagsaufgaben zu bewältigen.

© Ingo Arndt Photography

Männchen sind überflüssig, hier herrscht das Matriarchat

Außerdem sind Bienenvölker ein wunderbares Beispiel für einen radikalen Feminismus. „Der Bienenstaat ist ein reiner Frauenstaat, der hervorragend funktioniert“, sagt Jürgen Tautz. Alle Arbeiter sind Weibchen. Nur einmal im Jahr, um den Frühsommer herum, stellt die Königin gezielt bis zu 2000 Männchen her. Sie hat in ihrem Körper derart feine Ventile, dass sie genau ein Spermium in eine Eizelle platzieren kann. Aus befruchteten Eiern entstehen immer Weibchen. Lässt die Königin eine Eizelle unbesamt, schlüpft am Ende ein Männchen, die sogenannte Drohne.

Im Vergleich zu 50 000 Weibchen ist Zahl der Männchen kaum der Rede wert. Ihre einzige Lebensaufgabe besteht darin, die Königin zu begatten. Das habe interessanterweise nichts mit Sex oder Fortpflanzung zu tun, erklärt Tautz. „Bienendrohnen haben keine Väter“, sagt er. Diese Entdeckung machte als erster der schlesische Pfarrer Jan Dzierzon vor rund 200 Jahren. „Er bekam Riesenärger mit dem Bischof, weil er behauptet hatte, dass Jungfrau Maria nicht die Einzige war, die einen Sohn ohne biologischen Vater zur Welt bringen konnte“, erzählt der Experte und schmunzelt.

Vorsicht, bitte nicht reizen!

Doch selbst in einem perfekt organisierten Matriarchat kommt es vor, dass Bienen schlechte Laune haben. „Sie sind schon auch wehrhafte Tiere“, sagt Ingo Arndt. Wer ihnen näherkommen will, muss Vorsicht walten lassen. Das musste der Fotograf am eigenen Körper schmerzhaft erfahren als er manchmal das Fenster in seiner Beobachtungshütte zum Fotografieren aufmachte. „Nach dem zweiten Stich ins Auge zog ich immer einen Schleier über den Kopf“, sagt er und lacht.

Der 20. Mai ist Weltbienentag. Eine wunderbare Gelegenheit, aus nächster Nähe das Leben dieser geheimnisvollen Waldbewohner zu beobachten, die für Artenvielfalt und intakte Natur unschätzbar sind. Mit Arndts Buch geht das garantiert ohne Stichgefahr.

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