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In der Prawda, dem Zentralorgan der KPdSU, erschien im Oktober 1986 eine Karikatur, die die KGB-These vom Aidsvirus als biologischem Kampfstoff illustriert.

© BStU

Wie die Stasi Aids als Propagandawaffe nutzte: Die Geburt einer Verschwörungstheorie

Einige glauben bis heute, dass das Aidsvirus eine US-Biowaffe sei. Die Stasi half, die Legende in die Welt zu setzen.

Verschwörungstheorien sind wie Viren. Sobald sie es geschafft haben, sich in den Köpfen einiger Menschen festzusetzen, sind sie kaum noch auszurotten. Ein besonders perfides Beispiel dafür ist das Gerücht, das Aidsvirus HIV sei gar nicht vom Tier auf den Menschen übergesprungen. Vielmehr habe es das US-Militär in einem Labor in Fort Detrick als Biowaffe erschaffen. Die Geheimdienste des Warschauer Paktes streuten es in den 1980er Jahren gezielt, um Stimmung gegen die USA zu machen. Es verunsicherte manchen Noch-Gesunden, HIV-Infizierten und Aids-Kranken. Sie trauten den zerstrittenen Wissenschaftlern nicht mehr, ließen sich nicht testen, verzichteten auf Kondome und anerkannte Therapien – mit teils tödlichen Folgen. Bis heute, lange nachdem der Ostblock zusammengebrochen ist.

Desinformation als Propagandawerkzeug

Dabei gaben bereits 1992 der Chef der russischen Aufklärung, Jewgeni Primakow, und zwei ehemalige Stasi-Offiziere zu, dass es eine Desinformationskampagne zu Aids gab. Die Stasi-Unterlagen-Behörde BStU veröffentlichte nun die bisher bekannten Details, zusammengetragen vom Projektleiter in ihrer Forschungsabteilung, Douglas Selvage, und dem Heidelberger Doktoranden Christopher Nehring („Die Aids-Verschwörung. Das Ministerium für Staatssicherheit und die Aids-Desinformationskampagne des KGB“, erschienen in der Reihe „BF informiert“ 33, Berlin 2014). Sie weisen nach, dass der oft zitierte DDR-Wissenschaftler Jakob Segal wusste, dass seine Forschungen für Propagandazwecke genutzt wurden. Ein Netz inoffizieller Stasi-Mitarbeiter streute die Verschwörungstheorie, die Massenmedien im Westen halfen unwissentlich dabei.

Wie die Zusammenarbeit des sowjetischen mit dem ostdeutschen Geheimdienst in Sachen Aids-Legende ablief, lag lange im Dunkeln. Denn die KGB-Akten sind Ausländern bis heute weitgehend unzugänglich. Und die meisten Akten der Hauptverwaltung A, die im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) für Auslandspropaganda, Spionage und Desinformation zuständig war, sind zerstört oder verschwunden. Die Forscher nutzten neue Funde, vor allem die Akten des bulgarischen Geheimdienstes. Auf diesem Wege ließen sich auch im Archiv der Stasi-Unterlagen-Behörde neue Informationen aufspüren und interpretieren. So konnten sie die Geschichte der Aids-Verschwörungstheorie etwas entwirren. Demnach hat der KGB ab 1985 sein ostdeutsches Bruderorgan einbezogen. Die Stasi setzte die Desinformationskampagne sogar dann noch eifrig fort, als der KGB sie aufgegeben hatte, um die Verhandlungen seines Landes mit den USA nicht zu stören.

Wissenschaftler per Autounfall beseitigen

Die Stasi berief sich vor allem auf den Biologen Jakob Segal und seine Frau Lilli, beide überzeugte Kommunisten, die während des Zweiten Weltkrieges nach Frankreich emigriert und dort Widerstandskämpfer gegen die Nazis waren. Später wurden sie sowjetische Staatsbürger. 1955 befahl Moskau die beiden Forscher nach Ost-Berlin, wo Jakob Segal als Biologieprofessor an der Humboldt-Universität wirkte. Dort begann eine enge Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit. Als „Geheimer Informator“ bot Jakob Segal nicht nur sein Wissen über Forscher dar. In den Aufzeichnungen des MfS-Hauptmanns Kairies ist zu lesen, dass Segal ihm am 6. März 1955 sogar vorschlug, „einen Autounfall zu inszenieren“, um einen Wissenschaftler mit angeblicher NS-Verbindung „zu beseitigen“.

Das Forscherpaar befasste sich in den 1980er Jahren mit dem Ursprung von Aids und verteidigte die Hypothese von der künstlichen Virusentstehung durch Forschungen im Pentagon. Ganz abwegig klang sie nicht. Als Beweis für ihre Richtigkeit betrachtete Segal die Bemerkungen eines Mitarbeiters des amerikanischen Gesundheitsministeriums 1969 auf einer Kongressausschuss-Sitzung: „Die Molekularbiologie ist ein Gebiet, das rasche Fortschritte macht, und angesehene Biologen glauben, dass es in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren möglich sein würde, einen synthetischen Erreger zu produzieren, der in der Natur nicht existiert und gegen den keine natürliche Immunität entwickelt werden kann.“

Die willkommene Legende

Ob die Segals die Stasi beeinflusst haben oder umgekehrt, ist nicht sicher. Wahrscheinlich war es eine Wechselwirkung. Jedenfalls war der erste Beitrag der Stasi zur Kampagne des KGB eine „wissenschaftliche Studie“ namens „Aids – Natur und Ursprung“, verfasst von den Segals und dem Chemiker Ronald Dehmlow (IM „Nils“). Hektografiert und ins Englische übersetzt wurde sie 1986 auf dem Gipfeltreffen der blockfreien Staaten in Harare, Zimbabwe, verteilt - unter dem Titel „Aids – US-home made evil, not imported from Africa". Der Text wimmelte vor Fehlern. Der gröbste: Das Aidsvirus sei 1977 durch die Rekombination von Teilen zweier Viren (Visna und HTLV-1) entstanden. Dass es zu dieser Zeit die Technik der Rekombination noch gar nicht gab, interessierte auf dem Gipfeltreffen nicht. Man strich die Frage nach dem afrikanischen Ursprung von Aids von der Tagesordnung. Viele afrikanische Länder lehnten die These ohnehin als „rassistisch“ ab. Die Legende, die Immunschwächekrankheit sei im Labor entstanden, kam gerade recht.

Der KGB war mit der „Studie“ hoch zufrieden und schrieb an den bulgarischen Geheimdienst: „Indem wir die Niederlage der ,afrikanischen Version’ zeigen, werden antiamerikanische Stimmungen in den Staaten des Kontinents aufgepeitscht.“ In der DDR, wo man das Thema Aids insgesamt unter der Decke halten wollte, durfte die Segal-These dagegen nicht veröffentlicht werden.

These "unter Oberschulniveau"

Im Westen wurden die Medien unwissentlich zu Helfern. Der Londoner „Sunday Express“ machte den Anfang und verbreitete am 25. Oktober 1986 die Segal-Version der Aidsentstehung in einem Aufmacher. Der Schriftsteller Stefan Heym interviewte Jakob Segal am 8. November 1986. Aber „Spiegel“, „Die Zeit“ und sogar die „Quick“ lehnten die Publikation ab. Erst Monate später, am 18. Februar 1987, brachte die taz das Interview.

Unterdessen ließen kritische DDR-Forscher ebenso wie ihre sowjetischen Kollegen kein gutes Haar an der Biowaffen-These. Der Virologe Hans-Alfred Rosenthal von der Charité fürchtete, Segal mache die „DDR-Wissenschaft international lächerlich“. Seine These sei „unter Oberschulniveau“. Vor allem die Behauptung, Viren könnten in der Natur kein Erbgut austauschen, sei „von höchster Primitivität“. Nach solchen Äußerungen durften die Aidsforscher nicht mehr im Ausland publizieren. Aber in der sterbenden DDR hielten sie sich immer weniger daran. Der Berliner Molekularbiologe Erhard Geißler etwa nannte am Rande einer Tagung in San Francisco Segals These „totalen Unsinn“ und sprach von einem „unappetitlichen Politthriller“.

UV-Strahlen als Therapieansatz

Die Segals verbreiteten ihre These auch ohne offizielle und geheime Unterstützung in mehreren Publikationen weiter – bis sie 1995 und 1999 starben. Das Klima war ihnen günstig: eine grüne Anti-Gentechnik-Welle, noch keine wirksame Aids-Behandlung, Hoffnung auf alternative Therapien.

Segal nannte ultraviolette Strahlen als „Therapieansatz“, dachte auch an traditionelle afrikanische und asiatische Naturheilmittel, empfahl im Frühstadium zwei Aspirin-Tabletten pro Tag. Auch ein amerikanischer Außenseiter, der Molekularbiologe Peter Duesberg, gefährdete mit seinen Reden das Leben gläubiger Zuhörer. Er hielt das Virus für nicht besonders gefährlich; eigentlich verursachten Drogen die Krankheit. Aids sei keineswegs ansteckend, „Safer Sex“ unsinnig. Wie viele Aids-Tote diese Pseudo-Forscher auf dem Gewissen haben, ist unbekannt.

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