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Die Genspur der Powerfrauen : Gab es in Europa ein Matriarchat?
Noch vor gar nicht allzu langer Zeit waren es die Frauen, die die passenden Männer um sich versammelten. Das belegen genetische Überreste aus Südengland.

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Gehen wir zu dir oder zu mir? Das ist heute in den von Wohnungsnot geplagten Großstädten keine Frage mehr. Man geht dorthin, wo es noch bezahlbaren Raum für ein bisschen Privatsphäre und (später und in der Folge) vielleicht auch für eine Familie gibt. Uralte patriarchalische Traditionen – „das Weib sei dem Manne Untermieter“ – müssen weichen.
Tatsächlich waren es in den vergangenen Jahrtausenden in der Regel die Frauen, die – mal mehr, mal weniger freiwillig – ihre Koffer packen und in die Hütten, Häuser oder Schlösser der Männer umziehen mussten. Das lässt sich, unter anderem, durch Untersuchungen von Erbgutresten aus Familiengräbern nachvollziehen.
Bleiben in einem Dorf über Generationen die Y-Chromosomen der Männer eng verwandt, das Erbgut in den nur über Mütter vererbbaren Mitochondrien jedoch nicht, heißt das: Die Männer bleiben vor Ort, ihre Ehefrauen hingegen stammen aus Nachbardörfern oder mitunter weit entfernten Regionen und heiraten in die Familien der Männer ein. Solche „patrilinearen“ Gesellschaften waren die Regel.
Doch nun sind Forscher in Süd-England auf eine überraschende Ausnahme gestoßen: eine matrilineare Gesellschaft, in der die Frauen vor Ort blieben und die Männer ihnen hinterherliefen. Darauf deuten Erbgutüberbleibsel von 50 Menschen hin, die um etwa 43 v. Chr. auf einem Friedhof in Dorset begraben worden waren.
Die meisten waren über die mütterliche Linie miteinander verwandt und hatten eine gemeinsame Vorfahrin, die dort schon Hunderte Jahre zuvor gelebt haben muss. „Väterlicherseits bestand die Verwandtschaft hingegen fast gar nicht“, sagt die Leiterin, der in „Nature“ veröffentlichten Studie, Lara Cassidy vom Trinity College Dublin.
Einfluss und Status
„Dies zeigt uns, dass die Ehemänner nach der Heirat in die Gemeinschaften ihrer Frauen zogen, wobei der Grund und Boden möglicherweise über die weibliche Linie weitergegeben wurde“, sagt Cassidy. Das sei der erste Hinweis auf eine derartige Gesellschaftsform im prähistorischen Europa.

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Ob es sich dabei um ein richtiges Matriarchat handelte, lässt sich aus den Erbgutdaten nicht herauslesen. Cassidy zufolge müssen Englands Frauen in der Eisen- und Bronzezeit aber Status und Einfluss über den Besitz, die Entscheidungen und Finanzen der Familie gehabt haben.
Das passt zu den, wenn auch nur raren historischen Berichten über mächtige keltische Herrscherinnen, etwa Boudica und Cartimandua, die die Römer zu Beginn ihrer Invasion bekämpft hatten.
Bleibt die Frage, ob es auch den Genforschern in zweitausend Jahren gelingen wird, aus den Erbgutresten auf Berliner Friedhöfen die Paarungspraktiken heutiger Großstädter zu rekonstruieren.
Was wir zum Leben mitbekommen und was wir weitergeben – jedes Wochenende Geschichten rund um Gene und mehr in der „Erbonkel“-Kolumne.
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