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Mädchentracht mit Seidenschürze, Frauentracht mit Blaudruckschürze.

© Bearbeitung Tagesspiegel/Jan Lorenz & Ectoplastic UG

Endlich Antworten zur Digitalisierung: An den Sorben wollen Forscher Kulturwandel ergründen

Manchmal ist es gut, ein kleines Volk zu sein: Kulturwissenschaftler verfolgen aufmerksam den digitalen Wandel bei den Sorben. So wollen sie analysieren, was digitale Gesellschaft ausmacht.

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Das moderne Leben ist von Maschinen bestimmt: Die Kommunikation mit den Liebsten, der Musikkonsum oder die Steuererklärung funktioniert inzwischen über die vernetzten Geräte in Hosentaschen, am Handgelenk oder im Ohr. Wie eine Naturgewalt hat der digitale Kulturwandel alle Lebensbereiche erfasst – wohin er die Menschheit führt, ist ungewiss. 

„Aus wissenschaftlicher Perspektive ist die Digitalisierung einfach passiert – es weiß aber eigentlich niemand, wie“, sagt Anca Claudia Prodan von der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU) in Cottbus. Forscher würden sich schwer damit tun, das Phänomen zu verstehen und es in Theorien zu gießen. Das heute kleine Volk der Sorben, das seit etwa 1000 Jahren in der Lausitz lebt, biete ihr den idealen Beobachtungsraum für ihre Forschung dazu. 

Die Digitalisierung vollziehe sich bei den Sorben verzögert und langsamer, erklärt die Anthropologin. „Sie sind eine kleine Kultur, das macht es übersichtlicher“. Diese sei ein „Schatz“, um die allgemeinen Herausforderungen der Digitalität zu beleuchten. In den letzten Jahren sei sie jedoch immer wieder gefragt worden, was das für einen Sinn habe. „Seit ich mich mit der sorbischen Kultur befasse, muss ich mich ständig für meine Arbeit erklären.“ Das hätte sie gewundert.

„Dieses Thema betrifft uns alle und nicht nur Minderheiten“, sagt Prodan. Die Forscherin beschäftigt sich mit Kulturerbe-Forschung: etwa, wie Kultur in einer zunehmend technisch geprägten Welt zwischen Generationen überliefert wird. „Mir geht es um die kulturelle Vielfalt und deren Unterstützung im Alltag“, sagt sie – was sie erarbeitet, soll der Gesellschaft nutzen.

Konflikte und Abhängigkeiten

Wie steht es um die Digitalisierung in der sorbischen Welt? Bislang ignorieren Apple, Amazon, Meta oder Google die beiden Sprachen, die noch von etwa 30.000 Menschen in Brandenburg und Sachsen gesprochen werden. Ortsbezeichnungen sind im Siedlungsgebiet zum Beispiel amtlich zweisprachig, was Kartendienste wie Google Maps aber missachten – genauso übrigens wie die meisten Medien. ChatGPT behauptet zwar, Sorbisch zu beherrschen, produziert auf Nachfrage aber nur Kauderwelsch. Eine Ausnahme ist Microsofts Übersetzungsfunktion, die die Sprachen versteht. Der „Bing Translator“ ist in verschiedene Programme der Firma eingebettet.

So bequem und praktisch die Digitalisierung den Alltag macht – die wachsende Abhängigkeit von Technologien und ihren Entwicklern kann auch zum Problem werden. Auch Nationalstaaten sehen das Problem und streben im Zeitalter von Cyber-Kriegsführung und Hackerangriffen nach Unabhängigkeit. Die EU etwa versucht, Digitalkonzerne mit Regeln einzuhegen, um Monopole und Angriffe auf die Privatsphäre zu verhindern. 

Weil es noch wenige sorbischsprachige Angebote im Netz gibt, ihre Kultur also wenig digitalisiert ist, betrifft diese Abhängigkeit die Sorben noch nicht in dem Maße. „Die großen Digitalkonzerne interessieren sich nicht für Kultur oder Minderheiten, denen geht es um Gewinn“, sagt Prodan. Was diese heute an selbstverständlichen Services liefern, müssen sich die Sorben quasi selbst basteln.

So gibt es in der Lausitz ein Netz aus Forschern und sorbischsprachigen IT-Experten, die diese Lücke füllen. Sie arbeiten ehrenamtlich, am Sorbischen Institut, an den Unis in Leipzig und Dresden oder für die Stiftung für das Sorbische Volk. 

Aus digitalisierten Wörterbüchern entstanden Rechtschreibkorrekturen für Schreibprogramme, aus den digitalen Textkorpora der Linguisten erwuchs der KI-gestützte Übersetzer „Sotra.app“. Die TU Dresden erstellte einen umfassenden Sprachkurs für Deutsch- und Englischsprechende, in den digitale Medien aus Archiven und Museen einflossen. Sprachaktivisten um den Bautzener Slawisten Julian Nyča schufen über das gemeinschaftliche OpenStreetMap-Projekt eine sorbische Kartenvariante. Neuerdings gibt es eine KI-basierte Untertitelungsfunktion für deutschsprachige Filme.

Auch anderes Kulturgut – Musik, Literatur und all das, was Sammlungen an Museen betrifft – wird zunehmend in den digitalen Raum übertragen. So digitalisiert ein Kollektiv aus Künstlern, Modedesignern und eines Regionalvereins mit „Drasta Digital“ die Hoyerswerdsche Tracht. Seit dem Jahr 2024 wird am Sorbischen Institut ein Digitalisierungszentrum aufgebaut, das Bestände aus dem eigenen Kulturarchiv und Bibliothek digital erschließen soll. 

Das Projekt „Drasta Digital“ scannt Trachten der evangelischen Sorben um Hoyerswerda.

© Jan Lorenz & Ectoplastic UG

Eine Frage der Dosis

So laufen die Entwicklungen für die Kulturforscherin transparent ab. Google oder Duolingo ließen sich bei ihrer Produktentwicklung dagegen nicht so in die Karten schauen. Es sind bei den sorbischen Eigenprojekten deutlich weniger Personen beteiligt: Im März konnte Prodan fast alle Akteure der sorbischen Digitalisierung in einem Tagungszentrum der BTU versammeln. 

Diese diskutierten unter anderem, ob die bisherige Unsichtbarkeit der Sorben nicht auch ein Vorteil statt bloßer Nachteil sei. „Wollen wir unsere Kultur wirklich dem Technokapitalismus ausliefern?“, fragte ein Teilnehmer aus dem Publikum. Speziell KI-Firmen schürfen in den ins Netz gestellten Kulturgütern der Menschheit wie in einem Bergwerk, trainieren mit öffentlich verfügbaren Texten, Bildern und Klängen ihre Modelle.

Die kommerziellen KI-Produkte dienen dann später dazu, Kreative und die Kulturschaffende überflüssig zu machen: Artikel, Musik oder Illustrationen lassen sich schließlich per Knopfdruck generieren. Übersetzer und Grafiker klagen bereits über die Billigkonkurrenz. 

Technooptimismus sei tatsächlich nicht geboten, sagte auch Anne Dippel, Kulturanthropologin von der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Digitalisierung müsse man wie einen medizinischen Wirkstoff begreifen – sie sei „Gift und Gabe“. Für die Sorben, die Kaschuben in Polen oder die Bretonen in Frankreich zum Beispiel liege in der Vernetzung auch eine Chance: „Minderheiten auf der ganzen Welt werden sich so ihres gemeinsamen Schicksals bewusst“. Jeder siebte Europäer gehört einer Minderheit an. Diese stellen etwa neun Zehntel der kulturellen und sprachlichen Vielfalt. 

Fragen von Identität und Gemeinschaft

Gesichert scheint unter den Digitalexperten zu sein, dass eine Kultur nicht als starres Regelwerk, sondern als beweglicher und sozialer Prozess zu begreifen ist. Er wird durch Gemeinschaften und Lebenspraxis getragen, was vernetzte Technik mit einschließt.

Wer zu einer kulturellen Gemeinschaft gehört, ist aber Verhandlungssache. Auch in der gesamtdeutschen Migrationsdebatte stellt sich immer wieder die Frage nach Herkunft, Integration und kultureller Dominanz, wer dazu gehören darf und wer sich wie anzupassen hat. 

Auch, was das Sorbische auszeichnet, ist strittig. Aus rechtlicher Sicht darf sich jeder selbst zum Sorben erklären, und so identifizieren sich heute auch viele Deutschsprachige als Wende oder Sorbe. Es existiert auch wissenschaftlich kein Konsens darüber, was sorbische Kultur und Identität eigentlich ausmacht. Die Forschung beschreibt meist Brauchtum und materielle Zeugnisse, aber wenig, was in abstrakter Weise darüber hinausgeht. Daran schließt sich die Frage, ob es eine spezifische sorbische Digitalkultur gibt. Auch darauf will Prodan eine Antwort finden. 

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