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Erinnerung zum 80. Jahrestag: Berlin braucht den Bahnhof Warschauer Aufstand
Es wäre möglich den Berliner S-Bahnhof Warschauer Straße in Warschauer Aufstand umzubenennen, um an die Zerstörung Warschaus vor 80 Jahren unter deutscher Besatzung zu erinnern.
Stand:
80 Jahre nach dem Ausbruch des Warschauer Aufstands hat die deutsche Gesellschaft keine Antwort auf die Frage gefunden, wie sie an die vollständige Zerstörung der Hauptstadt Polens durch Wehrmacht und SS erinnert. Die polnische Heimatarmee hatte am 1. August 1944 mit über 30.000 Kämpfern und Kämpferinnen den Versuch der Selbstbefreiung von der seit September 1939 währenden deutschen Besatzung unternommen.
Nach 63 Tagen Kampf war sie unterlegen. Deutsche ermordeten allein im Massaker im Stadtteil Wola innerhalb einer Woche bis zu 50.000 Zivilpersonen – darunter Frauen, Männer und Kinder. Insgesamt wurden etwa 180.000 Zivilisten durch Angehörige von SS und Wehrmacht umgebracht.
Ab September 1944 setzten SS und Wehrmacht systematisch Wohnhäuser, Kulturdenkmäler, Krankenhäuser und Archive in Brand, um Warschau zu zerstören. Der für die Aufstandsbekämpfung und das Morden verantwortliche Generalleutnant der Waffen-SS Heinz Reinefarth lebte nach Kriegsende ungestraft auf Sylt und war von 1951 bis 1964 Bürgermeister von Westerland.
Auch 2024 wird es in der deutschen Hauptstadt keinen Staatsakt der Erinnerung geben. Das politische Berlin ist im August im Urlaub. Kanzler Olaf Scholz kann nicht seine Ferienpläne ändern, nur weil die polnische Exilregierung den Auftakt des Aufstands 1944 mitten in die Sommerpause gelegt hatte.
Eine Anfrage an den Berliner Senat, am 1. August das Brandenburger Tor zum Gedenken an den Warschauer Aufstand anzustrahlen, wurde abgelehnt. Die Begründung: dies sei nur nach terroristischen Anschlägen vorgesehen. Das Deutsch-Polnische Haus, das in Zukunft ein Gedenkort für alle Opfer der deutschen Besatzung Polens im Zentrum Berlins sein soll, eröffnet am Roten Rathaus eine Fotoausstellung. Der Regierende Bürgermeister Berlins hat keine Zeit für die Eröffnung gefunden.
Die Erinnerung an die systematische Zerstörung der polnischen Hauptstadt ist offenkundig eine Leerstelle in der deutschen Hauptstadt. Einen ersten, einfachen und nachhaltigen Schritt, dies zu ändern, wäre, die S-Bahnstation Warschauer Straße in Warschauer Aufstand umzubenennen.

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Es handelt sich um ein zentrales Verkehrskreuz, an dem täglich Zehntausende Menschen umsteigen. Hier laufen am Wochenende die Partyfäden zwischen Kreuzberg und Friedrichshain zusammen. Die Nähe der Warschauer Straße zum nur 83 Kilometer entfernten Polen legt nahe, genau hier ein Zeichen zu setzen, den Aufstand beim Namen zu nennen und in der Berliner Stadtgesellschaft die Erinnerung an den Versuch der Vernichtung einer ganzen europäischen Metropole zu verankern. Die Haus für Haus durchgeführte Zerstörung des Warschauer Zentrums galt sowohl der Stadt als auch der polnischen Nation.
Die Zerstörung galt der ganzen polnischen Nation
Eine S-Bahnstation Warschauer Aufstand wird Fragen aufwerfen, denn bis heute verwechseln Menschen aus Politik, Journalismus und Museen den Warschauer Aufstand des Spätsommers 1944 mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto vom April 1943. Auch dieses Ereignis spielt in der deutschen Gedenkkultur nur eine geringe Rolle.
Die jüdische Ghettobevölkerung hatte sich tagelang gegen ihre Auslöschung zur Wehr gesetzt. Zuvor hatten die Deutschen zwischen 1941 und 1943 über 450.000 polnische Juden und Jüdinnen erst im Ghetto eingesperrt und ermordet. Dieser Genozid wurde von Berlin aus organisiert und im Vernichtungslager Treblinka durchgeführt.
Im zweiten Warschauer Aufstand lehnte sich im August und September 1944 die verbliebene polnische Stadtgesellschaft gegen die Übermacht des Deutschen Reichs auf. Die Heimatarmee zog dafür Kämpfer aus ganz Polen an der Weichsel zusammen und wählte den Zeitpunkt, um der Einnahme Warschaus durch die Roten Armee zuvorzukommen. Die sowjetischen Truppen warteten unweit von Warschau den Aufstand ab. In der Volksrepublik Polen und in der DDR war die Erinnerung an den Aufstand unterdrückt, weil er sich auch gegen die sowjetische Rückeroberung Polens gerichtet hatte.
Es ist 2024 möglich, mit dem S-Bahnhof Warschauer Aufstand eine neue Form der Erinnerung zu etablieren, die Teil des Berliner Alltags wird. Die Frage, welcher Aufstand damit erinnert wird, ist eine gute Frage. Denn ihre Beantwortung lenkt den Blick auf die zwei Warschauer Aufstände und die deutsche Vernichtungspolitik, gegen die sie sich richteten.
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