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Entscheidungen fallen Menschen nicht immer leicht. Eine KI namens „Centaur“ versucht nun, sie vorherzusagen.

© EdNurg - stock.adobe.com

Guckt sie nur oder kauft sie schon?: KI „Centaur“ sagt menschliches Verhalten voraus

Psychologen haben eine Künstliche Intelligenz mit Daten von Millionen Entscheidungen trainiert. Führen Maschinen, die menschliches Verhalten, etwa beim Einkauf, vorausahnen können, in die „digitale Sklaverei“?

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Am Montag schlägt Amazon Ratgeber für Selbstmotivation vor. Mittwoch, das Party-Wochenende naht, schickt Zalando schon Links zu schicken Tanzschuhen. Und Freitag weist Google ungefragt auf Premium-Grillkohle hin.

Längst setzen Unternehmen alle möglichen Technologien ein, um die Entscheidungen ihrer Kunden vorausahnen und davon profitieren zu können. Was einst mit dem Platzieren von „Quengelware“ in für Kinder greifbare Höhe im Supermarkt begann, ist längst zu einem Kampf der besten Technik zur Vorhersage menschlichen (Kauf-) Verhaltens geworden. Wo stehen wir?

Die KI, die weiß, was Du tun wirst

Schon jetzt seien diese Vorhersagemethoden „sehr gut“ und würden als Geschäftsgeheimnisse gehütet, sagt der Verhaltenswissenschaftler Clemens Stachl von der Universität St. Gallen. So beeinflussen sie etwa das Online-Shopping oder binden Nutzer möglichst lange an Social-Media-Apps. Doch mithilfe von Künstlicher Intelligenz werden diese Vorhersagen menschlicher Entscheidungen nun noch präziser, ob beim Shoppen oder in anderen Lebenssituationen.

Jetzt hat ein internationales Forschungsteam das KI-Modell „Centaur“ getestet, das mit Daten von zehn Millionen Entscheidungen von rund 60.000 Personen gefüttert wurde, die jeweils rund 160 psychologische Experimente durchgeführt hatten. Für Forschungszwecke: Um „den menschlichen Geist in seiner Gesamtheit“ zu verstehen, schreibt das Team um Eric Schulz vom Institut für Human-zentrierte Künstliche Intelligenz am Helmholtz-Zentrum München im Fachblatt „Nature“.

Es besteht die Gefahr, dass KI uns immer vorhersagbarer macht und in eine Form digitaler Abhängigkeit oder gar ,digitaler Sklaverei‘ führt.

Clemens Stachl, Verhaltenswissenschaftler, Universität St. Gallen

Das Ergebnis: Computermodelle wie Centaur seien in der Lage, „menschliches Verhalten in einer Vielzahl von Bereichen zu erfassen“. Nicht nur habe Centaur in „jedem einzelnen Experiment“ das Verhalten von Testpersonen besser vorhersagt als bestehende kognitive Computermodelle. Die KI habe die menschlichen Entscheidungen auch dann noch voraussehen können, wenn die Forschenden die Bedingungen veränderten, also Entscheidungstests durchführten, auf die die KI nicht trainiert war.

Im Verlauf der Experimente habe sich Centaur immer mehr an den Menschen angepasst, „obwohl es nie explizit darauf trainiert wurde, menschliche neuronale Aktivität zu erfassen“. Ein solches Vorhersagemodell biete „viele direkte Möglichkeiten, den menschlichen Geist besser zu verstehen“, schreibt das Team.

Eine Form digitaler Abhängigkeit?

„Durch unseren alltäglichen Medienkonsum und die Nutzung digitaler Technologien produzieren wir Tag für Tag neue Verhaltensdaten, die zur weiteren Verbesserung solcher Modelle beitragen“, sagte Stachl, der an dem Münchener Forschungsprojekt nicht beteiligt war, dem Science Media Center. Das könne dazu beitragen, „komplexe gesellschaftliche Herausforderungen – etwa im Sozial- oder Gesundheitsbereich – zu lösen.“ Gleichzeitig bestehe jedoch „die Gefahr, dass sie uns immer vorhersagbarer machen und in eine Form digitaler Abhängigkeit oder gar ,digitaler Sklaverei‘ führen.“

Entscheidungen fallen Menschen nicht immer leicht. Eine KI namens „Centaur“ versucht nun, sie vorherzusagen.

© Getty Images/iStockphoto/gpointstudio

Bislang dürfte Centaur aber vor allem für die Grundlagenforschung, den Versuch, den menschlichen Geist zu verstehen, nützlich sein. Die KI stelle „einen wichtigen Beitrag zum Erkenntnisfortschritt in der Psychologie dar“, meint Andreas Glöckner,
Leiter der Abteilung Sozialpsychologie der Universität Köln. Der Nutzen des Modells für die kommerzielle Anwendung sei hingegen aktuell noch schwer abschätzbar.

„Bisher wurde das Modell dazu verwendet, um Verhalten im Labor vorherzusagen. Wenn das Modell auch in der Lage ist, Verhalten in realen Situationen gut vorherzusagen, wird es natürlich auch für kommerzielle Anwendungen wie beispielsweise in der Werbe- und Konsumentenpsychologie interessant.“

Laborverhalten ist nicht Alltagsverhalten

Dazu wird Centaur wohl noch optimiert werden müssen. So stellt etwa Markus Langer vom Institut für Psychologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg die Frage, ob die Genauigkeit in der Vorhersage menschlichen Verhaltens – die teilweise bei 64 Prozent liegt – „nun wirklich als ,gut‘ bewertet werden kann“. Die psychologischen Experimentalstudien, mit deren Ergebnisse Centaur trainiert wurde, seien „nur ein winziger Ausschnitt menschlichen Verhaltens innerhalb sehr umgrenzter Versuchssituationen“.

Über die Vorhersage „natürlichen“ oder „alltäglichen“ menschlichen Verhaltens sage das erst mal nicht viel aus. Daher warnt Langer davor, die Ergebnisse überzuinterpretieren: etwa zu glauben, man könne Centaur oder ähnliche KI-Systeme nutzen, um beispielsweise politischen Meinungsumfragen zu simulieren.

„Die Art und Weise, wie wir in den Verhaltens- und Sozialwissenschaften Menschen und ihr Verhalten studieren, ist nach wie vor stark auf Erklärung ausgerichtet“, sagt Clemens Stachl. Besser wäre es jedoch, so der Schweizer Verhaltenswissenschaftler, sich auf Vorhersagen von Verhalten zu konzentrieren.

„Bestehende Theorien vereinfachen oft zu stark und die daraus resultierenden einfachen Modelle halten dem Realitätstest nicht stand“. Anstatt Verhalten zu erklären, solle die Forschung versuchen, Vorhersagen zu treffen. „Funktionieren diese, bilden sie höchstwahrscheinlich Prozesse ab, die es wert sind, erklärt zu werden.“

Mit KIs wie Centaur sei das möglich. „Wir werden in den Verhaltenswissenschaften die nächste computationale Revolution erleben“, prophezeit Stachl. „Wie wir mit dieser Technologie umgehen, ist eine Frage, die unsere Gesellschaft als Ganzes beantworten muss.“ (mit smc)

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