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Johannes Heinrich Schultz war der Erfinder des „Autogenen Trainings“ - und überzeugter Nazi.

© ullstein bild via Getty Images

Tagesrückspiegel – Heute vor 96 Jahren: Ich bin ganz ruhig

Er gilt als Begründer des Autogenen Trainings, das Menschen hilft, auch schweren posttraumatischen Stress zu bewältigen. Doch Johannes Heinrich Schultz hing auch menschenverachtenden Ideologien an.

Sascha Karberg
Eine Kolumne von Sascha Karberg

Stand:

Ich bin ganz ruhig.“ Das Prinzip des autogenen Training ist simpel. „Ich bin ganz ruhig.“ Indem man seinem Körper immer wieder einredet, oder vielmehr denkt, „Ich bin ganz ruhig“, entspannt er sich tatsächlich. Die Idee zu dieser Autosuggestion, mit der sich nicht nur angespannte Muskeln lösen, sondern auch Atmung und Herzschlag beeinflussen lassen, hat ein Berliner Psychiater am 30. März 1927, heute vor 96 Jahren, erstmals vorgestellt.

Es war die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, die für viele der ehemaligen Soldaten alles andere als „Goldene Zwanziger“ waren. Viele waren nicht nur körperlich versehrt, sondern litten auch psychisch unter den Folgen des Gemetzels in den Schützengräben. Selbst wenn Ärzte damals schon ein nennenswertes psychotherapeutisches Repertoire gehabt hätten, hatten viele der Kriegsversehrten das nötige Geld dafür nicht. Die „Hilfe zur Selbsthilfe“, die Johannes Heinrich Schultz auf dem „Zweiten Allgemeinen Kongress der Psychotherapie 1927“ vorstellte, kam da genau richtig.

Schultz hatte Erfahrungen mit Hypnose gemacht und mit Yoga-Elementen zu „autogenen Organübungen“ verknüpft. Tatsächlich ließ sich damit das Befinden der „nervösen Patienten“, die man heute wohl eher ins Spektrum des Posttraumatischen Belastungssyndroms einordnen würde, bessern. Und auch auf Gesunde wirkten sich Schultzes suggestive Sprüche positiv aus. Wer sich auf die Formeln einließ, fühlte sich gelassener, weniger gestresst.

Ohne die Mechanismen im einzelnen zu kennen, hatte Schultzes Trainingsprogramm buchstäblich einen Nerv getroffen. So wie das vegetative Nervensystem die Anspannung der Muskeln, den verkrampften Nacken, den hektischen Atem und das rasende Herz registriert und an das Gehirn zurückmeldet, so funktioniert auch der umgekehrte Weg. Durch Autosuggestion, kann das Gehirn dem Körper „einreden“, entspannt zu sein, ja sogar suggerieren, dass man die nächste Nikotindosis nicht braucht.

Voraussetzung ist, sich einzulassen auf die hypnoseähnliche Situation des autogenen Trainings. Dann ändert sich sogar messbar die Konzentration bestimmter Stresshormone im Blut und kann so weit gehen, dass autogenes Training für bestimmte Patienten, etwa mit Herzrhythmusstörungen oder Psychosen, nicht in Frage kommen.

Der so wichtige Glaube an das autogene Training könnte dem einen oder der anderen allerdings getrübt werden durch das Wissen, dass Schultz im Nationalsozialismus Karriere machte, eine „deutsche Seelenheilkunde“ propagierte und auch nicht davor zurückschreckte, sich für die Selektion und Tötung psychisch Kranker und Behinderter auszusprechen. Homosexualität hielt er behandlungsbedürftig, wer sich wehrte, landete im KZ. Nachteile hatte Schultz nach dem Krieg nicht, er blieb unbescholten und bis ins hohe Alter ein gefragter Redner.

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der Kolumne auf der Kolumnenseite des Tagesspiegel.

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