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Hilfe statt Populismus: Psychisch Kranke gehören nicht auf stigmatisierende Listen
Kann ein Register von psychisch „Auffälligen“ die Gesellschaft vor Gewalttätern schützen, wie es jetzt Politiker fordern? Unser Autor sieht Handlungsbedarf an ganz anderer Stelle.

Stand:
Es kann jeden treffen. Ja, auch Carsten Linnemann könnte morgen schon erkranken, etwa an einer akuten Psychose. Vielleicht ausgelöst durch zu großen Stress, einen Unfall oder Arzneimittelnebenwirkungen. Der CDU-Politiker würde plötzlich den Bezug zur Realität verlieren, verlöre die Einsicht in sein Handeln und liefe Gefahr, aggressiv und womöglich sogar straffällig zu werden.
Würde sich dieser Patient Linnemann dann wohl gern auf jener „Liste für psychisch erkrankte und straffällig gewordene Menschen“ wiederfinden, die der Politiker Linnemann so vehement und schlagzeilenträchtig fordert, seit es in Hamburg, Aschaffenburg und Magdeburg Anschläge von offenbar psychisch schwer erkrankten Tätern gab?
Ziemlich sicher nicht. Denn psychisch erkrankt zu sein bedeutet, in diesem Land nach wie vor stigmatisiert zu werden. Und zwar nicht nur für die Phase der Erkrankung, sondern auch darüber hinaus. So müssen selbst Menschen, die lediglich unter Depressionen litten, nach wie vor befürchten, das Label „nicht ganz richtig zu ticken“ nie wieder loszuwerden.
Die Forderung nach einem „Register“, damit „Sicherheitsbehörden zum Schutz vor Gewalttätern besser mit Psychiatrien und Psychotherapeuten zusammenarbeiten können“, so ein Beschluss der CDU, hält die Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer Andrea Benecke daher für „vollkommen rückständig und stigmatisierende Schaufensterpolitik“.
Hier würden „schreckliche Gewalttaten Einzelner instrumentalisiert, um alle Menschen mit psychischen Erkrankungen unter Generalverdacht zu stellen, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu sein“.
Benecke hat Recht.
Zwar behaupten Linnemann und Co, eine Stigmatisierung psychisch kranker Menschen ausschließen zu wollen. Aber wie soll das gehen? Und eröffnet ein Register von psychisch „Auffälligen“ der polizeilichen Risikobewertung tatsächlich „neue Möglichkeiten zur Prävention“ von Gewalttaten, wie behauptet? Lassen sich damit wirklich Straftaten verhindern?

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Auf den ersten, oberflächlichen Blick scheint ein Generalverdacht gegen psychisch Kranke lohnenswert: Während Studien zufolge etwa zwei Prozent der Bevölkerung gewaltbereit oder -tätig sind, steigt der Prozentsatz auf vier in der Gruppe psychisch Erkrankter.
Einer Untersuchung in den USA zufolge waren von 35 Attentätern, die mehr als drei Menschen getötet hatten, 28 psychisch erkrankt – etwa an Schizophrenie, Verfolgungswahn, bipolarer Störung oder posttraumatischem Belastungssyndrom. Doch greift man sich die Gruppe von Patienten mit Schizophrenie heraus, werden sie nicht häufiger gewalttätig als die übrige Bevölkerung.
Was wirklich helfen könnte, wäre die Behandlung von Patienten, bevor ihre psychische Erkrankung so stark ist, dass sie zur Gefahr für den Patienten selbst oder andere wird.
Sascha Karberg
Statt psychisch Erkrankte in Listen zu erfassen und das Misstrauen ihnen gegenüber mit Gerede von „Schutzpflicht gegenüber den Bürgern“ (Tino Sorge, CDU) zu schüren, bräuchte es von der Politik mehr Unterstützung für Ärzte, Psychiater, Kliniken und Pflegepersonal, das sich um die Patienten kümmert.
Denn das Problem ist meist nicht, dass die späteren Täter nie zuvor als psychisch auffällig registriert worden wären. Viel zu oft agiert das Gesundheitssystem hilflos. Patienten wie der eingangs genannte Psychotiker etwa erkennen ihr „Problem“ aufgrund ihrer Erkrankung nicht und sehen gar keine Veranlassung für eine Behandlung. Sie werden zu „Drehtürpatienten“, die sich kaum in Therapie schon wieder selbst entlassen.
Betreuern, Ärzten und Pflegenden sind dann die Hände gebunden. Die Grundrechte jedes Menschen verbieten Zwangsbehandlungen oder Zwangsunterbringungen in Fachkliniken, selbst wenn sie im ureigensten Interesse des Patienten wären.
Wo ist hier der Ruf nach „Schutzpflicht“ des Staates gegenüber seinen (kranken) Bürgern? Zwar ist eine Einweisung und Behandlung gegen den Willen der Betroffenen möglich, wenn sie sich selbst oder andere gefährden könnten. Doch die richterlichen Hürden dafür sind (zu) hoch.
Was wirklich helfen könnte, wäre ein viel früheres Eingreifen: die psychiatrische oder psychologische Behandlung von Patienten, bevor ihre psychische Erkrankung so stark ist, dass sie zur Gefahr für den Patienten selbst oder andere wird. Es bräuchte mehr Therapieplätze, mehr niedrigschwellige Krisendienste, mehr Handlungsspielraum für Ärzte.
Doch damit sich Menschen schon früh mit ersten Symptomen um Hilfe bemühen, bräuchte es zuerst Vertrauen. In den Staat und sein Gesundheitssystem. Und nicht Angst vor polizeilicher Registrierung und gesellschaftlicher Stigmatisierung.
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