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Masterstudentin Yurika Kimura beim Klavierunterricht mit ihrem Professor, dem Pianisten Markus Groh, per Videocall in ihrem Heimatland Japan.

© Fabian Raab

Musikunterricht in Coronazeiten: Home-Teaching nach Japan

Für kontaktlosen Musikunterricht ist es egal, ob die Studentin in Berlin oder in Japan ist. Wie ein Klavierprofessor per App unterrichtet und durch Corona anders hört.

Ta-ta-ta-taaa. Nein, es ist nicht das Schicksal, das in Beethovens Fünfte oft hineininterpretiert wird und weshalb sie auch als Schicksalssymphonie bekannt ist. Es ist der Professor, der auf dem Laptop zur Online-Klavierstunde ruft. 

Die App Appassimo meldet sich mit dem Schicksalsmotiv, und passenderweise auch noch in der Klavierversion von Liszt. In der Nähe von Sapporo, auf der japanischen Insel Hokkaido, erscheint das Gesicht von Klavierprofessor Markus Groh auf dem Bildschirm von Yurika Kimura. 

Die 27-Jährige ist seine Schülerin im dritten Master-Semester und aktuell 9 000 Kilometer von ihrer Ausbildungsstätte, der Universität der Künste Berlin, entfernt.

Kimuras drittes Semester stand von Anfang an unter einem sonderbaren Stern. Es waren Semesterferien, Kimura verbrachte sie bei ihrer Familie in Japan, und in Berlin kündigte sich allmählich an, dass das Coronavirus weitaus mehr Bereiche stilllegen würde als man sich anfangs hatte vorstellen können. 

„Bleibt dort, wo ihr privat gut üben könnt"

Im März, noch bevor die zahlreichen Corona-Beschränkungen in Kraft traten, empfahl Groh seinen Studierenden daher: „Bleibt lieber dort oder geht dorthin, wo ihr privat gut üben könnt. Irgendwann wird man wahrscheinlich nicht mehr reisen können, und die Uni wird die Überäume schließen müssen.“

Recht hatte er. Was er noch nicht hatte: die optimale Lösung, wie Instrumentalunterricht ohne physische Kopräsenz stattfinden kann. 

Mit den meisten Videokonferenztools können zwar Konferenzen ohne allzu große Einschränkungen abgehalten werden, aber was macht man beim Musikunterricht, insbesondere für angehende Profis, wo es so stark auf klangliche Nuancen ankommt? 

Schnell entstand an der UdK Berlin eine Taskforce zu Fragen wie diesen, denn Präsenzunterricht sollte es in diesem Semester vorerst in keinem Fach geben. Wie kann digital etwa Fechten oder Musical unterrichtet werden? 

Eine Musikunterricht-App, speziell für die Bedürfnisse der Kunsthochschule

„Alles, was mit Klang, Raum und Bewegung zu tun hat“, fasst Groh zusammen, „lässt sich nicht so einfach ins Digitale übertragen.“ Für den Instrumentalunterricht immerhin gab es bald eine Lösung: eine App, von Entwicklern einer Musikunterricht-App speziell auf die Bedürfnisse der Kunsthochschule zugeschnitten.

Als Beethovens Schicksalsmotiv in der Klavierversion von Liszt ertönt, ist es in Japan Nachmittag, Kimura hat schon einige Stunden Klavierspiel hinter sich. In Berlin ist es neun Uhr morgens und für Groh die erste Unterrichtsstunde des Tages. 

Er setzt die Kopfhörer auf. Ein kurzer Check: die WLAN-Verbindung ist stabil genug, Kimuras externes Mikrofon ist gut positioniert, ihre Kamera auch. 

Der Klang ist tatsächlich erstaunlich klar – was daran liegt, dass, anders als bei anderen Videokonferenztools, bei einer schlechten Internetverbindung zuallererst die Bildqualität leidet. Der Ton wird unkomprimiert übertragen. Weswegen eine gute Internetverbindung auf beiden Seiten unerlässlich ist.

Bei schlechter Internetverbindung leidet zuerst die Bildqualität

„Bei mir klingt alles gut, bei Dir auch?“, fragt Groh. „Okay, Yurika, dann kannst Du anfangen zu spielen. Den ersten Satz, bitte.“ Sie nickt und legt die Hände auf die Tasten. Auf dem Programm steht Beethovens Sturmsonate. 

Kimura ist im Profil zu sehen, zunächst beginnt sie ganz ruhig, den Blick nach oben gerichtet, die ersten Töne kommen wie aus dem Nichts. Ein paar Takte lang scheint es zart dahinzutänzeln. Es ist die Ruhe, die den Sturm allerhöchstens erahnen lässt. 

Doch dann ziehen Tonwolken auf, plötzlich kommt Tempo und Tragik ins Spiel, ein Windstoß kommt, dann beginnt es zu regnen, zu blitzen und zu donnern, Kimuras Klavierspiel wird laut und energisch, ihr ganzer Körper wirkt aufgeladen, irgendwann berührt sie mit dem Kopf beinahe die Tasten. 

Dann wirft sie ihn schwungvoll nach oben, lehnt sich nach hinten, die Musik kommt zeitweise fast völlig zum Stehen, um dann umso energischer wieder loszubrechen.

Sechs Minuten, und der erste Satz verschwindet in demselben sanften Nichts, aus dem er gekommen war. 

Markus Groh gibt sein Feedback

Markus Groh schaltet sein Mikrofon an und gibt sein Feedback. Die leisen Stellen seien sehr gefühlvoll aufgebaut, zu den lauten könne Kimura noch ein bisschen dynamischer hinführen, sodass es sich allmählich zum fortissimo steigere. „Ich kann hier schlecht beurteilen, wie viel Klang bei einer Live-Aufführung an dieser Stelle noch kommen könnte“, sagt er.

Deshalb konzentriert er sich auf einen weiteren Punkt: „Versuch mal, diese repetierten Noten wie kleine Seufzer zu spielen, nicht wie ungeduldige Repetitionen. Sie sollten einen flehenden Charakter haben. Sonst bekommt das Stück schnell etwas Komisches.“ 

Kimura lacht verhalten. „Oder wie würdest Du den Charakter des Stücks beschreiben?“, will Groh von der Studentin wissen. Sie überlegt und blättert in den Noten. Auf Deutsch fehlen ihr die großen Worte. „Dramatisch“, antwortet sie dann. 

„Ein Drama war auch die Vorlage“, ergänzt Groh, „Beethovens Biograph, Anton Schindler, hat den Komponisten eines Tages nach dem Schlüssel zu der Sonate gefragt, und darauf soll Beethoven geantwortet haben: ,Wenn Sie die Sonate verstehen wollen, lesen Sie Shakespeares Sturm.’“

„Was hört der andere wirklich vom Klang?“

Grohs Anmerkungen zu Kimuras Spiel sind verbale Hinweise, Reflexionen, musiktheoretische Einordnungen, Fragen zum Stück, um die Studierenden selbst denken zu lassen. „Ich bin schnell vom klassischen Vorspielen abgekommen“, sagt Groh über seinen digitalen Unterricht. 

„Denn online weiß ich einfach nicht: Was hört der andere wirklich vom Klang?“ Und unnötige Fragezeichen möchte er unter diesen erschwerten Bedingungen um keinen Preis schaffen. 

„Erst jetzt durch das Online-Unterrichten ist mir bewusst geworden, dass ich ja auch im realen Unterrichtsraum andere Ohren habe als der Student oder die Studentin“, fügt Groh hinzu und lacht. 

„Man denkt immer, man ist im selben Raum und man hört genau das gleiche, aber das ist ja auch nur eine Illusion.“

Was außerdem in diesem digitalen Semester mehr Raum einnimmt in Grohs Klavierunterricht: die optische Wirkung beim Spielen. „Das hatte jetzt erstaunlich viel Atmosphäre, sogar online“, sagt Groh, als Kimura eine Passage erneut vorspielt, „das finde ich auch gut von der Körpersprachlichkeit. 

Diese Dur-Terz könnte noch ein bisschen gen Himmel gespielt werden. Spiel diesen letzten Akkord noch mal und versuch irgendeine Bewegung zu machen, die so ein bisschen nach oben zeigt. Dass Du mit Deiner Bewegung unterstreichst, was wir hören.“ Kimura setzt erneut an.

Auch die optische Wirkung beim Spielen ist wichtig

„Wenn ich einen Studenten wochenlang direkt über die Videokamera sehe, mache ich mir auch als Lehrer mehr Gedanken darüber, wie er ein bestimmtes Gefühl oder eine Idee auch körperlich besser vermitteln kann.“ 

Heutzutage werde zwar der optische Ausdruck manchmal übertrieben. Aber dennoch: Jeder Pianist und jede Pianistin solle einmal darüber nachdenken, was er oder sie außerhalb von Klang noch vermitteln möchte. 

Sagt Groh jetzt, im Corona-Semester. In seinen eigenen Ausbildungsjahren hätte er das ganz anders gesehen. „Vielleicht stimmt es“, räumt er ein, „dass Leute aus meiner Generation die Musik zu viel rein klanglich gesehen haben.“

Doch jetzt, wo Live-Auftritte kaum möglich sind, wird Groh bewusst, wie wichtig Momente sind, in denen man mit einem Publikum, das gleichzeitig zuhört und zusieht, auf unterschiedlichen Ebenen kommunikativ verbunden ist. 

Beethovens Sturmsonate paast in die Zeit des Shutdown

„Vielleicht findet man in der Shutdown-Zeit wieder zurück zu einem Gleichgewicht zwischen Akustischem und Optischem, was eben beides zur Musik dazugehört“, überlegt Groh. Musik sei eben keine Konserve.

Dass Kimura in diesem Jahr ausgerechnet die Sturmsonate für sich erschließen wollte, hat Symbolcharakter. Nicht nur wegen des großen Beethoven-Jubiläums. Die Sturmsonate steht auch für die Bewältigung einer tiefen Krise, in der sich Beethoven in den Jahren 1801 und 1802 befand. 

Er war kurz davor, sein Gehör zu verlieren, hochgradig unzufrieden mit seinem bisherigen Schaffen und strebte einen völlig veränderten künstlerischen Ausdruck an. Das Ergebnis ist eine Sonate, die für widerständige Produktivität steht. 

Und Produktivität unter widrigen Bedingungen zeigen auch die Musikerinnen und Musiker der UdK Berlin. Nun, auch Krisen schulen Kreativität.

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