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Der ehemalige Second Sight-Chef Robert Greenberg im Jahr 2013 mit dem künstlichen Augensystem „Argus II“.

© Zuma Wire/Imago

Update

US-Unternehmen stoppt bionische Augen-Technologie: Hunderte Menschen könnten zum zweiten Mal erblinden

Durch „Argus II“ wurden viele Blinde zu Sehenden. Doch die US-Firma Second Sight gab die visionäre Technologie auf. Hunderte erwartet ein düsteres Schicksal.

Blinde können wieder sehen – mit diesem biblischen Versprechen ließ das US-amerikanische Unternehmen Second Sight zum Ende des vergangenen Jahrtausends aufmerken. Und es lieferte: Mit seinen sogenannten Argus-Systemen verhalf die Biotechnologie-Firma in den Folgejahren zahlreichen erblindeten Menschen zu Augenlicht.

Doch laut einem Bericht des US-Wissenschaftsmagazins „IEEE Spectrum“ hat Second Sight die visionäre Technologie längst aufgegeben und überlässt somit Hunderte Nutzerinnen und Nutzer einem womöglich düsteren Schicksal, das sie bereits für abgewendet hielten.

Wie „Spectrum“ berichtet, entwickelt Second Sight Medical Products - so der vollständige Name - seine sogenannten bionischen Augenimplantate bereits seit dem Jahr 2019 nicht mehr weiter.

Konkret geht es dabei um die Produkte „Argus I“ und „Argus II“, die nach einer etwa vierstündigen Operation ein künstliches Sehen in Grautönen ermöglichen. Beim jüngsten System wird das Netzhaut-Implantat durch eine Videobrille optimiert.

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Auch in Deutschland sind mehrere Personen von dem „Argus“-Aus betroffen. Der Leiter der Klinik für Augenheilkunde an der Uniklinik Aachen, Peter Walter, teilt auf Tagesspiegel-Anfrage mit, dass allein in seinem Haus elf Implantationen vorgenommen worden seien. Die Strategie von Second Sight bezeichnet er als „Katastrophe für die Patienten, weil der Service für die Systeme vollständig weggebrochen ist und diese jetzt alleine da stehen“.

Über das überraschende Aus der „Argus“-Technologie habe die Geschäftsführung ihre Kundschaft damals auch informiert, schreibt „Spectrum“ unter Berufung auf einen Brief. Darin sei versichert worden, dass die technische und klinische Betreuung trotz der Einstellung der Technologie weiter durch ein „vollständiges Team“ gewährleistet sei. Doch auch daraus wurde nichts.

„Diejenigen mit Implantat tappen im Dunkeln“

Denn Second Sight befand sich damals bereits in schweren wirtschaftlichen Turbulenzen. Ende März 2020 trat Firmenboss Will McGuire zurück, kurz darauf entließ das Unternehmen mit Sitz in Los Angeles 84 von insgesamt 108 Mitarbeitenden. Hierzu gab es eine offizielle Mitteilung.

[Lesen Sie zudem: Wie inklusiv ist Politik? – „Meine Eltern hatten keine Erfahrung mit Menschen, die blind sind“ (T+)]

Laut „Spectrum“ meldete sich das Unternehmen jedoch nie persönlich bei seiner Kundschaft, die sich hoffnungsvoll und kostenintensiv in seine Abhängigkeit begeben hatte. Bei technischen Defekten können Betroffene kaum noch Hilfe des Herstellers erwarten. Ihre Implantate sind dann nutzlos, das zuvor wiedererrungene Augenlicht abermals verschwunden.

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Der Patient Ross Doerr, den „Spectrum“ unter anderen im Rahmen seiner offenkundig aufwändigen Recherche konsultierte, schilderte damals in einem Facebook-Post seine Verzweiflung ob der ungewissen Zukunft mit den „Argus“-Produkten. „Diejenigen von uns, die dieses Implantat haben, tappen im übertragenen und im wörtlichen Sinne im Dunkeln“, schrieb der US-Amerikaner.

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Den nun erschienen „IEEE Spectrum“-Bericht kommentierte Doerr ebenfalls auf Facebook so: „Achten Sie beim Lesen des Artikels darauf, wie viel Geld das Unternehmen zur Verfügung hat und wofür es dies ausgibt.“

Ex-Boss moniert „unrentables“ Geschäft

Allein, das Geschäft mit der Hoffnung rechnete sich für Second Sight nur bedingt. Das Unternehmen schrammte wohl knapp am Bankrott vorbei, wie sich später herausstellte. In der offiziellen Mitteilung vom Frühjahr 2020 wurden die Auswirkungen der Corona-Pandemie als Begründung genannt. Doch bei der Vermarktung seiner visionären Technologie hat sich die kalifornische Firma wohl schon im Voraus verkalkuliert.

„Die Größe des Marktes war kleiner als wir dachten“, räumte Ex-Chef Greenberg nun gegenüber „Spectrum“ ein. Der Medizinier hatte Second Sight im Jahr 1998 gegründet und 2013 mit der Zulassung von „Argus II“ durch die US-Arzneimittelbehörde seinen größten beruflichen Erfolg gefeiert.

Der ehemalige Second Sight-CEO Robert Greenberg (Foto von 2013).
Der ehemalige Second Sight-CEO Robert Greenberg (Foto von 2013).

© Zuma Wire/Imago

Nur drei Jahre später jedoch trat Greenberg aufgrund interner Differenzen als Firmenboss zurück, ehe er das Unternehmen dann 2018 vollends verließ. Mit all den Vertriebs- und Personalkosten sei das Unternehmen „nicht rentabel“ gewesen, so Greenberg.

Etwa 497.000 Dollar Gesamtkosten pro „Argus II“-Paket

Laut „Spectrum“ lag der Verkaufspreis für ein „Argus II“ bei rund 150.000 US-Dollar (umgerechnet fast 132.000 Euro), insgesamt jedoch beliefen sich demnach die Gesamtkosten laut Patientenangaben auf etwa 497.000 Dollar (rund 437.000 Euro). Inbegriffen seien hierbei sowohl die Operation als auch die Geräte- und Rehabilitationskosten gewesen.

Nun sind die implantierbaren und revolutionären „Argus“-Sehprothesen ein tragisches Auslaufmodell. Dennoch behauptet Second Sight auf seiner Internetseite weiterhin nicht frei von Stolz, „Weltmarktführer für Neuromodulationsgeräte zur Behandlung von Blindheit“ zu sein.

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Allerdings liegt der Fokus fortan nichtmehr auf „Argus“, sondern auf „Orion“ – einem Gehirnimplantat, das ebenfalls Blinde zu Sehenden transformieren soll, aber noch in millionenschweren Teststudien festhängt. Im Sommer 2021 ging Second Sight an die Börse, der erhoffte wirtschaftliche Schub währte jedoch nur kurz. Nun steht das Unternehmen vor der Fusion mit der Biopharmafirma Nano Precision Medical (NPM).

Düstere Zukunftsperspektive

Und die Patientinnen und Patienten? Second Sight gibt an, dass „weltweit mehr als 350 Personen“ ein „Argus II“-Implantat besitzen. Auf „Spectrum“-Anfrage hatte das börsennotierte Unternehmen zunächst mitgeteilt, dass es bislang nicht zu hinreichender technischer und klinischer Betreuung seiner Kundschaft imstande gewesen sei.

Dem Bericht zufolge sei diesen dann später mitgeteilt worden, dass Second Sight sein „Bestes tun“ werde, um Medizinern virtuellen Support zu leisten – Reparaturen oder die Ersatzteillieferungen seien jedoch ausgeschlossen.

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Somit sind Hunderte Menschen akut gefährdet, zum zweiten Mal in ihrem Leben zu erblinden. „Spectrum“ berichtet bereits von technischen Defekten, die Nutzerinnen und Nutzer erlebten. Laut bislang noch unbestätigten Berichten sollen in mehreren Fällen auch medizinische Komplikationen im Zusammenhang mit „Argus II“ aufgetreten sein.

Die Zukunftsperspektiven für die „Argus“-Kundschaft sind offenbar düster. Zwar habe der NPM-Chef Adam Mendelsohn auf „Spectrum“-Anfrage mitgeteilt, sein Unternehmen wolle nach der Fusion mit Second Sight „ethisch richtig“ handeln. Zugleich habe er indes eingeräumt, dass die Vergangenen „einfach nicht relevant für die neue Zukunft“ sei.

Trotz vieler weitreichender medizinischer Errungenschaften muss die „Argus“-Geschichte offenkundig auch als eine Warnung im Bereich der Biotechnologie verstanden werden. Der von den Problemen betroffene Patient Ross Doerr warnte dieser Tage eindringlich – und sarkastisch. Er rate zu großer Vorsicht, bevor sich jemand ein biomedizinisches Implantat einsetzen lassen wolle, schrieb er auf Facebook und fügte an: „Sie können am Ende sehr viel mehr haben, als Sie erwartet haben.“

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