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Proteste gegen die Entscheidung des Supreme Court zu „Roe vs. Wade“, Juni 2022, Atlanta, Georgia, USA.

© IMAGO/ZUMA Wire/Robin Rayne/Archiv

Konsequenz aus Abtreibungsgesetzen: Die hirntote Adriana Smith muss Mutter werden

In Georgia halten Ärzte eine Schwangere und einen Fötus mit Apparaten am Leben, ohne die Angehörigen gefragt zu haben. Wie gehen deutsche Ärzte mit solchen Fällen um?

Stand:

Eine junge Frau geht mit extremen Kopfschmerzen zum Arzt, wird aber mit Medikamenten wieder nach Hause geschickt. Einen Tag später wird ihr Hirntod festgestellt, die Folge einer Hirnblutung.

Das war im Februar in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia. Jetzt, mehr als drei Monate später, wird die 30-jährige Adriana Smith in der Frauenklinik der Emory University nach wie vor beatmet und am Leben erhalten. Der Grund: Sie ist schwanger. Ein Abstellen der Geräte könnte als Abtreibung gewertet werden. Nach Angaben ihrer Familie gegenüber dem lokalen Sender WXIA vergangene Woche war die Frau zu diesem Zeitpunkt in der 21. Woche. Demnach muss sie, als sie tödlich erkrankte, in einer sehr frühen Phase der Schwangerschaft gewesen sein.

In den USA sind aufgrund von höchstrichterlichen Entscheidungen die Abtreibungsgesetze in den vergangenen Jahren deutlich verschärft worden. In Georgia gilt eines der restriktivsten und auch juristisch umstrittensten Regelwerke, das zwischenzeitlich auch bereits richterlich einmal gekippt wurde. Es besagt unter anderem, dass ein Kind nicht abgetrieben werden darf, sobald mit technischer Hilfe ein Herzschlag des Fötus festgestellt werden kann. Das ist etwa ab Woche sechs der Fall.

Ultraschallbild eines Fötus im vierten Schwangerschaftsmonat.

© IMAGO/Pond5 Images

Die organischen Lebensfunktionen der jungen Frau, die bereits ein fünfjähriges Kind hat, werden deshalb weiter maschinell aufrechterhalten. Soweit bekannt, soll dies so bleiben, bis das Kind entbunden werden kann. Smiths Mutter April Newkirk sagte dem Fernsehsender, die Ärzte hätten bei dem Fötus potenziell schwerwiegende medizinische Probleme festgestellt: „Sie ist schwanger mit meinem Enkel. Aber er wird vielleicht blind sein, vielleicht nicht laufen können, vielleicht nicht überleben, wenn er geboren ist“, sagte sie.

Kontroverse um „Erlanger Baby“

Die Familie hat, selbst wenn die Lebensaussichten des Fötus nicht gut sind, nicht das Recht, die lebenserhaltenden Maßnahmen abschalten zu lassen. Dazu, ob die Familie dies wünschen würde oder nicht, äußerten sich Newkirk, Smiths Lebensgefährte oder andere Angehörige öffentlich bislang nicht eindeutig. Die Mutter sagte aber, die Familie „hätte diese Wahl überhaupt haben“ sollen.

Dass Frauen, deren Lebensfunktionen nur mit technischen Mitteln aufrechterhalten werden oder im Koma liegen, Kinder gebären, sei, so der Medizinethiker Andreas Frewer von der Universität Erlangen-Nürnberg, bislang weltweit mehr als 40 Mal dokumentiert. Oft war hier die Schwangerschaft zum Zeitpunkt des ursächlichen Unfalls oder der Krankheit aber schon weiter fortgeschritten. Zu den Fällen gehört auch einer in den USA, wo 2018 eine seit ihrer frühen Kindheit im Wachkoma liegende Frau nach einer Vergewaltigung schwanger wurde und das Kind dann, auch weil dies nicht rechtzeitig auffiel, austragen musste.

Der Erlanger Ethiker Andreas Frewer ist auf diesem Gebiet auch deshalb zum Experten geworden, weil es an der Klinik seiner Universität zwei ähnliche Fälle gab.

Der erste war das sogenannte „Erlanger Baby“. Hier kam es im Herbst 1992 zu schwerwiegenden gesellschaftlichen Kontroversen, als bekannt wurde, dass Mediziner der dortigen Uniklinik eine als hirntot geltende schwangere Frau am Leben erhielten. Es war seinerzeit die Familie, die an die Öffentlichkeit ging, weil sie sich aus der Entscheidung ausgeschlossen und durch die beteiligten Mediziner schlecht informiert fühlte. „Fünf Männer“, sagt Frewer, hätten die Entscheidung getroffen.

Der Rechtsmediziner Hans-Bernhard Wuermeling, Gründungspräsident der „Akademie für Ethik in der Medizin“, leitete diese ad hoc zusammengestellte Gruppe. Als die behandelnden Chirurgen die 18-Jährige auch unter dem Aspekt, vielleicht Spenderorgane entnehmen zu können, untersuchten, wurde die Schwangerschaft entdeckt. Der Fall löste heftige Debatten aus.

Aus dem „Erlanger Baby“, das es 1992 sogar in die Liste der „Wörter des Jahres“ schaffte, wurde letztlich gar kein Baby. Denn der Zustand der Mutter verschlechterte sich über die Zeit, unter anderem aufgrund einer Infektion. Und der Fötus starb bei einer Frühgeburt, etwa sechs Wochen nach dem Unfall.

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Schwangerschaftswochen dauert es, bis es im Mittel möglich ist, ein Kind per Kaiserschnitt zur Welt zu bringen, ohne dass es danach intensivmedizinisch behandelt werden muss.

2008 standen Ärzte in Erlangen erneut vor einer ähnlichen Entscheidung, diesmal bei einer nach einem Herzinfarkt schwer hirngeschädigten Frau. Der Direktor der Gynäkologie an der Uniklinik, Matthias Beckmann, wertet heute rückblickend die beiden in Fachkreisen „Erlangen 1“ und „Erlangen 2“ genannten Fälle als Antipoden. „Bei ‘Erlangen 1’ lief vieles schlecht, bei ‘Erlangen 2’ lief vieles gut“, so Beckmann gegenüber dem Tagesspiegel.

So habe 2008 der Lebensgefährte der Frau glaubhaft versichert, dass das werdende Leben im Mutterleib ein Wunschkind der Frau gewesen sei. Deshalb habe man davon ausgehen können, dass der Versuch, es zur Welt zu bringen, in ihrem Sinne sein würde.

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Sie musste auch nicht beatmet werden. Komplikationen konnten gut beherrscht werden, anders als etwa jene Infektion bei der Patientin 1992. Eine Untersuchung des Fötus ergab keine Anzeichen für Schädigungen durch den Sauerstoffmangel, den die Mutter zwischen ihrem Kreislaufstillstand und der Wiederbelebung erlitten hatte. Anders als 1992 habe es „wenig Publicity“ gegeben. Die hohe Transparenzpflicht, sagt Beckmann, mache es schon schwer genug, „gemeinsam in Ruhe eine Entscheidung zu treffen“.

Wir haben gute Medizin gemacht und Glück gehabt.

Matthias Beckmann, Gynäkologe, über den „Erlanger Jungen“

Man habe „vom Pflegepersonal bis zur Neonatologie“ (Geburtshilfe) ein großes Team von Anfang an einbezogen, inklusive ethischer und moralischer Diskussionen, mit Andreas Frewer als Berater. Jenes Team sorgte unter anderem auch dafür, dass der Fötus regelmäßig Reizen ausgesetzt war – etwa Stimmen von Angehörigen, die vom Band kamen. Krankengymnastik-Fachpersonal bewegte die Frau immer wieder, um auch hier die Verhältnisse einer normalen Schwangerschaft zumindest etwas zu simulieren.

„Wir haben gute Medizin gemacht und Glück gehabt“, sagt Beckmann rückblickend.

In der 35. Schwangerschaftswoche wurde per Kaiserschnitt ein gesunder „Erlanger Junge“ geboren. Auch die Mutter überlebte, als Komapatientin jedoch ohne Chance auf ein Erwachen.

Beim derzeitigen Fall in Atlanta ergibt sich aufgrund der seit 2022 angewandten verschärften Gesetzeslage die Situation, dass rein juristisch alles eindeutig erscheint. Deshalb musste offenbar auch nicht einmal die Familie in einen Entscheidungsprozess eingebunden werden, ja nicht einmal gefragt werden, ob die Frau das Kind wollte. Und auch die mögliche bereits bestehende Schädigung des Fötus ist rein formal für die Entscheidung, die Frau und damit das Kind, wenn möglich, am Leben zu erhalten, nicht relevant. Denn es gibt einen Herzschlag. Das ist das einzige verbliebene Kriterium.

Das zweite wäre eine Gesundheitsgefährdung für die Frau gewesen.

„Diese de-jure-Beurteilung trifft aber natürlich die Komplexität der Lage nicht“, sagt der Medizinethiker Frewer. Es habe, soweit bekannt, keine „differenzierte Ethikberatung“ gegeben. Bei der Familie entstehe so ein Ohnmachtsgefühl. Und dass die Fragen, was die Frau gewollt hätte, was der Vater will, was die Lebensaussichten des Kindes sind, offenbar komplett ignoriert würden, sei trotz der Gesetzeslage schwer nachzuvollziehen.

Georgia State Capitol, 24. Juni 2022: Proteste gegen die Entscheidung des U.S. Supreme Court, das Urteil des Verfahrens „Roe vs. Wade“ von 1973 aufzuheben, das für die USA das Recht auf Abtreibung regelte.

© IMAGO/ZUMA Wire/Steve Eberhardt

Letztlich ist es eben jene Gesetzeslage, die derzeit in Atlanta und auch andernorts in den USA Menschen zu Protesten auf die Straße bringt. In vielen US-Bundesstaaten wurden die Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch verschärft, nachdem 2022 der seit Donald Trumps erster Amtszeit mehrheitlich religiös-konservativ besetzte Oberste Gerichtshof das 1973 grundsätzlich garantierte Recht auf Abtreibung („Roe vs. Wade“) kippte.

Es ist aber auch diese Gesetzeslage, die die Ärztinnen und Ärzte der Klinik zu zwingen scheint, das vegetative Leben der Schwangeren aufrechtzuerhalten, weil sonst Klagen drohen würden. Emory Healthcare, die Betreiberfirma der Klinik, hat bisher den Entscheidungsprozess nicht öffentlich erläutert. In einem Statement heißt es lediglich, dieser hätte „Georgias Abtreibungsgesetze und alle anderen anwendbaren Gesetze“ berücksichtigt.

„Weder verboten noch geboten“

Die deutsche Gesetzeslage ermöglicht es den Angehörigen der betroffenen Frau im Austausch mit Ärzten und einem klinischen Ethikkomitee zu einer Entscheidung zu kommen. Lebensschutz sei hierbei grundsätzlich „sinnvoll und geboten“, sagt Frewer.

Doch in solchen Fällen sei es „weder klar verboten noch strikt geboten, eine Schwangerschaft aufrechtzuerhalten“. Vielmehr müssten in die Entscheidung der verbriefte oder mutmaßliche Wille der Mutter, die Sicht der Angehörigen sowie die Lebens- und Gesundheitssituation des erwarteten Kindes einfließen.

„Jeder Fall ist anders“, sagt Beckmann, „und man muss mit allen Beteiligten das Pro und Contra abwägen.“ Das klingt banal, aber nur, solange nicht eine Gesetzeslage wie die in Georgia diese Einzigartigkeit verneint.

Gerade zu der Frage, die aus Sicht vieler wahrscheinlich die wichtigste ist, gibt es außer als Seitenaspekt in ein paar anonymisierten Fallberichten kaum konkrete Daten. Es ist die, was all das letztlich für die Beteiligten bedeutet. Was macht es mit den Angehörigen, und auch den Pflegenden, wenn es, wie Beckmann sagt, „schlecht läuft“? Und was ist, wenn man wie in Erlangen 2008 „Glück hat“ und tatsächlich ein gesunder Mensch geboren wird, ein „Wunder-Baby“, wie damals auch geschrieben wurde?

Auch jener Fall „Erlangen 2“ ist anonymisiert. Die ärztliche Schweigepflicht verbietet es Beckmann und seinen Kollegen, sich dazu zu äußern, wie der „Erlanger Junge“, der heute 17 Jahre alt sein müsste, sich in den letzten Jahren entwickelt hat und wie es ihm heute geht.

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