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Lernrückstand in ganz Deutschland: Neue Bildungsstudie zeigt dramatischen Absturz in Mathe und Naturwissenschaften
Neuntklässlerinnen und Neuntklässler schneiden deutlich schlechter ab als noch 2018. Der Lernrückstand beträgt im Schnitt ein Jahr. Besonders betroffen sind Mathe und Chemie – und fast alle Bundesländer.
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Dass die Ergebnisse des „Bildungstrends“ in diesem Jahr dramatisch ausfallen würden, hatte sich schon vergangene Woche abgezeichnet. Insider berichteten plötzlich, die Bildungsministerkonferenz (BMK) wolle die Veröffentlichung des Bildungstrends, erstellt vom unabhängigen Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), verschieben: ohne Nennung von Gründen und ohne neuen Termin.
Anstatt zu erklären, was da los war, machte der Klub der Bildungsministerinnen und -minister dicht. Keine Beantwortung von Presseanfragen, dafür hektische Sitzungen. Doch dann mussten Simone Oldenburg, die Präsidentin der Bildungsministerkonferenz und Bildungsministerin Mecklenburg-Vorpommerns, und Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU) am Donnerstagnachmittag dennoch einen beispiellosen Leistungsabsturz der deutschen Neuntklässlerinnen und Neuntklässler in Mathematik und in den Naturwissenschaften verkünden.
Massive Probleme in Mathe und Naturwissenschaften
24 Kompetenzpunkte weniger in Mathematik, in Biologie, Chemie und Physik misst der IQB-Bildungstrend 2024. Das bedeutet, dass heutige Neuntklässler im Vergleich zur letzten Erhebung 2018 im Schnitt einen Lernrückstand von etwa einem Jahr aufweisen – also massiv schlechter darin sind, mathematische Probleme zu lösen und naturwissenschaftliche Fragestellungen zu verstehen, anzuwenden und zu beurteilen.
Noch dramatischer: Rund ein Viertel der Schülerinnen und Schüler (24 Prozent) erreicht in Mathematik nicht einmal die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss (MSA), wie er vom IQB im Auftrag der Bildungsminister definiert wurde. In Chemie scheitert daran ebenfalls jede bzw. jeder Vierte (25 Prozent), in Physik jede bzw. jeder Sechste (16 Prozent). Besser sieht es mit zehn Prozent nur in der Biologie aus. Umgekehrt schaffen nur noch 42 Prozent in Mathe den sogenannten Regelstandard für den MSA – also das, was alle mindestens können sollten, um einen mittleren Schulabschluss zu erhalten. In Chemie sind es 45 Prozent, in Physik immerhin noch 57 Prozent und in Biologie 59 Prozent.
Von einem „bundesweiten Abwärtstrend“ spricht das IQB, und tatsächlich ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die MSA-Mindeststandards verfehlen, in allen Bundesländern gestiegen – in Mathe im Schnitt um neun Prozentpunkte.
Bayern, Sachsen und Schleswig-Holstein vorne
Und der Rückgang hat sich beschleunigt: Waren die Kompetenzwerte zwischen 2012 und 2018 noch weitgehend stabil geblieben, markieren die jetzigen Einbrüche eine bildungspolitische Zäsur. Genau wie im vergangenen Jahr schon beim IQB-Bildungstrend für Deutsch, der einen ähnlichen Absturz beschrieb. Gegen den Trend und überraschend positiv entwickelten sich damals nur die Englisch-Kompetenzen.
Die Neuntklässler waren beim ersten Lockdown in der fünften Klasse. Mit den Nachwirkungen kämpfen sie offenbar noch heute.
IQB-Direktorin Petra Stanat
Erneut zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Ländern: Bayern, Sachsen und Schleswig-Holstein stehen bei den Matheleistungen noch vergleichsweise gut da, „durchgängig besonders schwache Ergebnisse“ berichtet das IQB aus Bremen, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Auch in den Naturwissenschaften liegen Bayern, Sachsen sowie in Teilen Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Thüringen vorn. Am anderen Ende der Skala: Berlin – und wieder Bremen, Hessen und Nordrhein-Westfalen.
Rückstand durch Pandemie
Die alles entscheidende Frage lautet: Was ist da passiert? IQB-Direktorin Petra Stanat sagt: vor allem die Corona-Pandemie. „Die Neuntklässler, die jetzt getestet wurden, waren beim ersten Lockdown in der fünften Klasse. Mit den Nachwirkungen kämpfen sie offenbar noch heute.“
Anhand der Antworten der Schülerinnen und Schüler in der IQB-Begleitumfrage erkenne man, dass ihre seelische Gesundheit, vor allem die der Mädchen, nicht wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht habe. „Seit der Pandemie jagt eine Krise die andere, das hinterlässt Spuren.“ Und das nicht nur in Deutschland: Die internationale PISA-Studie hatte vergangenes Jahr starke Rückgänge bei den Schülerleistungen in vielen Ländern gezeigt.
Rückstand auch bei deutschen Schülern
Wie sieht es aus beim Thema Zuwanderung, das in Bildungsdebatten oft reflexartig herangezogen wird, sobald die Leistungen bergab gehen? Die Realität ist deutlich differenzierter. Einerseits: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler aus Einwandererfamilien kletterte deutschlandweit zwischen 2018 und 2024 um sieben Prozentpunkte auf 40 Prozent, was genau dem Plus zwischen 2012 und 2018 entspricht. Nur, dass der Anstieg diesmal fast ausschließlich durch neu zugewanderte Kinder und Jugendliche zustande kam.
Andererseits: Zwar schnitten Einwandererkinder absolut gesehen erneut deutlich schwächer ab, doch die Kompetenzrückgänge in Mathe und Naturwissenschaften gingen dieses Mal durch die gesamte Schülerschaft, waren also weitgehend unabhängig von sozialer Herkunft und Migrationshintergrund. „Wir haben auch berechnet, wie die Ergebnisse aussähen, wenn sich die Schülerschaft seit 2018 nicht verändert hätte“, sagt Stanat. „Das Ergebnis: Die Abwärtsbewegung bliebe. Nur würden die Unterschiede zwischen den Bundesländern kleiner – abhängig vom Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund und dem durchschnittlichen Sozialstatus ihrer Familien.“
Abwärtstrend seit zehn Jahren
Für Schulen und Bildungsminister sind die Ergebnisse schwer zu verdauen – verlängern und beschleunigen sie doch jetzt einen Abwärtstrend, der seit mehr als einem Jahrzehnt anhält. Doch für Gefühle der Ohnmacht und Resignation gebe es keinen Anlass, sagt IQB-Direktorin Petra Stanat. „Die jeweilige Bildungspolitik macht einen Unterschied. Das sieht man in Hamburg, wo seit vielen Jahren konsequente Schulentwicklung betrieben wird, oder in Baden-Württemberg, das sich ebenfalls auf den Weg gemacht hat. Und das schlägt sich in den Ergebnissen nieder.“ So liege Baden-Württemberg erstmals wieder in allen getesteten Fächern über dem Bundesschnitt.
Diese Generation hat in der Pandemie viel verloren – jetzt ist es unsere Aufgabe, ihr mehr zurückzugeben, als sie verloren hat.
Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (Saarland).
Nach dem ersten Schock scheinen die Bildungsministerinnen und Bildungsminister sich berappelt zu haben. Die Verschiebung haben sie abgeblasen, und in ihren ersten, vor der Pressekonferenz versandten Aussagen gaben sie sich kämpferisch.
„Kein Grund zur Resignation, sondern ein Auftrag zum Handeln“ – so beschreibt Saarlands Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) den IQB-Bildungstrend. „Wir wissen, dass Präsenzunterricht wirkt – und dass unsere Programme greifen werden“, sagt Streichert-Clivot, die zugleich die Bildungspolitik der SPD-regierten Länder koordiniert. „Diese Generation hat in der Pandemie viel verloren – jetzt ist es unsere Aufgabe, ihr mehr zurückzugeben, als sie verloren hat.“ Sie verweist auf Investitionen in Unterrichtsqualität, Lehrkräftebildung und gezielte Förderung sowie Programme wie QuaMath für die Mathe-Unterrichtsentwicklung und StarS für den Übergang zur Grundschule.
Streichert-Clivots CDU-Pendant, Nordrhein-Westfalens Bildungsministerin Dorothee Feller, nennt die Ergebnisse „unbefriedigend“ und verweist angesichts des Abschneidens von NRW darauf, dass die Werte in allen Bundesländern „absackten“. Die Ursachen seien vielfältig – Pandemie, Kriege, Migration, Social Media –, „das alles verlangt unseren Schulen viel ab“.
Die Länder hätten darauf bereits reagiert, „unter anderem mit Maßnahmen für eine datengestützte Qualitätsentwicklung und eine gezielte Unterstützung von besonders belasteten Schulen“. Das neue Startchancen-Programm werde hier „einen entscheidenden Beitrag für bessere Bildungschancen leisten“. Und: „Schulpolitik ist und bleibt ein Marathon, kein Sprint.“
Wahr ist allerdings auch: So oder ähnlich haben die jetzigen Bildungsministerinnen und Bildungsminister – oder ihre Vorgänger – noch jede Studie mit enttäuschenden Ergebnissen der vergangenen zehn Jahre kommentiert. Was es jetzt braucht, ist mehr als das: die schonungslose Auseinandersetzung mit den Gründen für einen bildungspolitischen Abwärtstrend, der lange vor Corona begann.
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