zum Hauptinhalt

50 Jahre Diplomatie zwischen Deutschland und Israel: Luftpost nach Jerusalem

Deutschland und Israel feiern dieses Jahr 50 Jahre diplomatische Beziehungen - an der Freien Universität Berlin kam man sich schon sehr viel früher näher.

Im August 1957 erreicht den Präsidenten der Hebrew University of Jerusalem ein Brief von Studierenden der Freien Universität Berlin: „Eure Magnifizenz!“, beginnt das Schreiben auf Luftpostpapier – damals die übliche Anrede für Hochschulrektoren, die zu festlichen Anlässen noch im Talar mit Barett und Amtskette auftraten. Und die Studenten kommen auch gleich auf den Punkt: Ihr Ziel sei die „Anbahnung akademischer Kontakte zwischen der Hebräischen Universität Jerusalem und der Freien Universität Berlin“. Denn seit Jahren bestehe an ihrer Hochschule „ein reges Interesse an jüdischen Problemen“. Durch Vorlesungen und Übungen seien diese „zum Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Arbeit“ geworden. Nun sei auch das Interesse am Staat Israel erwacht, und ein direkter Austausch könne diese Arbeit „unvergleichlich fruchtbarer“ machen.

Wer waren diese Studenten, die nur zwölf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, den sie als Kinder oder Jugendliche miterlebt hatten, einen solchen Brief schrieben? Warum glaubten sie, dass ihr Wunsch nach Kontakten in Jerusalem vor dem Hintergrund von Judenverfolgung und Shoa auf ein ähnliches Interesse stoßen könnte? Die offiziellen politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern waren zu dieser Zeit kompliziert. Zwar regelte das Luxemburger Abkommen von 1952 die deutschen Reparationszahlungen an Israel. Diplomatische Beziehungen zwischen den Staaten gab es damals aber noch nicht. Sie sollten erst acht Jahre später, im Mai 1965, aufgenommen werden.

Das Schreiben der Studenten war einem Brief des Wirtschaftswissenschaftlers und damaligen Rektors der Freien Universität, Professor Andreas Paulsen, beigelegt, der den gleichen Vorschlag beinhaltete. Der studentische Brief war von der „Deutsch-Israelischen Studiengruppe“ verfasst worden, einer Vereinigung, die 1957 als erste Gruppe dieser Art in der Bundesrepublik gegründet worden war, und nach deren Vorbild bald auch in anderen Unistädten Ableger entstanden. Die „DIS“, wie sich die Gruppe auch abgekürzt nannte, organisierte Vorträge und Diskussionsveranstaltungen und gab die Zeitschrift „DISkussion“ heraus, mit Berichten aus Israel, Meinungsbeiträgen oder auch Protestartikeln gegen Antisemitismus.

Wie im Brief beschrieben, wurde an der Freien Universität früher als an anderen Hochschulen deutsch-jüdische Geschichte, Nationalsozialismus und Judenverfolgung in Vorlesungen und Seminaren zum Thema gemacht. Zu einem tendenziell offeneren Klima trug vermutlich bei, dass sich die Hochschulleitung schon in den 1950er Jahren bemüht hatte, Emigranten als Gastdozenten an die Freie Universität einzuladen oder als Professoren zu berufen, wie den Germanisten Adolf Leschnitzer, den Politologen Ernst Fraenkel und den Juristen Ernst Hirsch. 1963 wurde an der Hochschule das erste Institut für Judaistik in Deutschland gegründet, als Berufungszusage für Jacob Taubes, der zuvor an der Columbia University in New York gelehrt hatte.

Damals waren an der Freien Universität aber auch ehemalige NSDAP-Mitglieder unter den Professoren, vor allem in der juristischen Fakultät, die sonst gar keinen Lehrbetrieb hätte aufnehmen können, erzählt Siegward Lönnendonker, der 1958 aus Bielefeld zum Physikstudium nach Berlin gekommen war. Für Lönnendonker war die verhältnismäßige Offenheit, mit der an der Freien Universität über die jüngste Vergangenheit gesprochen wurde, eine ganz neue Erfahrung. 1963 wurde er Mitglied der Deutsch-Israelischen Studiengruppe der Freien Universität und Redakteur der Zeitschrift DISkussion, die damals einen Bericht über die erste umfassende, von Margherita von Brentano und Peter Furth geleitete, Seminarveranstaltung „Zur Analyse des faschistischen Antisemitismus“ herausbrachte. Allerdings: „Wer Jude war oder nicht, war für uns kein Thema“, sagt Lönnendonker. Man sei für die gemeinsame Sache eingetreten und habe nicht die schwierigen Erinnerungen jüdischer Studierender aufwühlen wollen. „Manchmal erfuhr man es durch Zufall, weil derjenige auch Mitglied der jüdischen Studentenvereinigung war.“

1963 fuhr Lönnendonker in einer vom Bundesverband der Deutsch-Israelischen Studiengruppe organisierten Reise nach Israel. Die Eindrücke von diesem zweimonatigen Aufenthalt sind auch heute noch sehr lebendig. Bei der Ankunft am Flughafen im „Heiligen Land“ habe ihn ein „Schauer“ übermannt, erinnert sich Lönnendonker, und er habe gedacht: Jetzt dürfen wir uns nicht überwältigen lassen von unseren Gefühlen. Er half im Kibbuz Nachal-Oz nahe der Stadt Gaza bei der Apfel- und Baumwollernte mit. Die jungen Israelis beeindruckten ihn: „sehr selbstbewusste Männer und Frauen“. Und er, der Sohn eines überzeugten Nazis, traf zum ersten Mal KZ-Überlebende. „Sie fragten erst, wie alt wir waren. Mein Jahrgang, 1939, war in Ordnung. Und dann zeigten sie die Nummer, die in ihren Arm tätowiert war.“

Wie viel schwieriger noch müssen damals Begegnungen von Israelis mit Deutschen im Land der Täter gewesen sein? Shlomo Aronson war der erste israelische Doktorand, der 1962 mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) an die Freie Universität Berlin kam und über Reinhard Heydrich und die Anfänge des Sicherheitsdienstes und der Gestapo promovierte. Kurz zuvor hatte Aronson, der auch als Journalist unter anderem für den israelischen Rundfunk arbeitete, über den Eichmann-Prozess berichtet, und in diesem Zusammenhang hatte er das Gerücht gehört, Heydrich – Leiter der Wannseekonferenz und maßgeblicher Organisator des Holocaust – habe jüdische Wurzeln. Er wollte nun herausfinden, ob das stimmte (es stimmte nicht), und dazu fuhr er nach Deutschland. Für dieses Projekt befragte er SS-Männer aus dem Umfeld und Angehörige Heydrichs. Eine Recherche, die nicht immer einfach war. „Meine arme Frau,“ erinnert sich Shlomo Aronson. „Als einmal das Telefon klingelte, nahm sie ab und reichte mir bleich den Hörer weiter: ,Frau Heydrich möchte dich sprechen‘, sagte sie.“ Es war eine Nichte Reinhard Heydrichs, die gar nicht weit von der Berliner Wohnung der Aronsons entfernt lebte und die er später zu einem Interview traf.

Die Gespräche mit den Tätern und ihren Angehörigen waren für Shlomo Aronson auch deshalb besonders schwierig, weil seine Familie persönlich betroffen war von der Shoa. Aronson, der 1936 in Tel Aviv geboren wurde, hatte das Thema gewählt, weil er damit die Geschichte seiner Mutter verstehen wollte. Seine Mutter, die aus Polen stammte, erfuhr 1943 von Flüchtlingen, dass alle ihre Angehörigen – insgesamt 80 Menschen – deportiert worden waren. Diese Nachricht traf sie so sehr, dass ihr Lebenswille erloschen sei, erinnert sich Aronson. „Auch wenn sie überlebt hatte, hörte sie auf, Mutter und Ehefrau zu sein.“ Er habe, obwohl sie damals in Palästina im britischen Mandatsgebiet lebten, seine Mutter durch den Holocaust verloren.

Tatsächlich hatten viele israelische Wissenschaftler selbst Verfolgung und Vertreibung erlebt, durch ihre Familiengeschichten kannten sie die Dimensionen des Holocaust. Deshalb seien israelische Wissenschaftler in der Frage, ob sie mit deutschen Fachkollegen kooperieren sollten, tief gespalten gewesen, sagt Jürgen Renn, Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Gemeinsam mit Hanoch Gutfreund, dem ehemaligen Präsidenten der Hebrew University of Jerusalem, hat er sich mit der Geschichte der Wissenschaftskontakte zwischen beiden Ländern beschäftigt. Ihre Kollegen in Deutschland hätten sich hingegen oftmals „noch der Vorstellung hingegeben, einige wenige Nazis hätten Verbrechen im Namen der Deutschen verübt“, sagt Renn. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des eigenen Fachs habe besonders in den Naturwissenschaften erst spät eingesetzt – in den 1980er Jahren. Paradoxerweise hätten am Anfang vor allem politische Motive den Anlass gegeben, Kontakte auf der wissenschaftlichen Ebene herzustellen. Später, in den 1970er Jahren, sei umgekehrt die Wissenschaft der Schrittmacher der Verständigung gewesen.

Die Idee, gerade die wissenschaftliche, „objektive Darstellung“ könne „einer Versöhnung den Weg ebnen“, vertrat die Hochschulleitung der Freien Universität, als sie Anfang der 1950er Jahre versuchte, den in die USA emigrierten Germanisten Adolf Leschnitzer in einem Schreiben für eine Gastdozentur in Berlin zu gewinnen. Und diese Idee prägte auch den Brief, den Rektor Paulsen gemeinsam mit dem Schreiben der Studenten 1957 nach Jerusalem schickte. Auf der israelischen Seite war man da skeptischer. Die Hebräische Universität in Jerusalem bestätigte zwar im September des gleichen Jahres den Eingang des Briefes und sagte eine Antwort zu. Doch die Anfrage sei, so berichtet Hanoch Gutfreund, erst eineinhalb Jahre später im Dezember 1958 in der Hochschulleitung diskutiert und schließlich negativ beschieden worden. Das ist jedoch nur in den Protokollen festgehalten. Ein Antwortschreiben an die Freie Universität ließ sich bislang nicht finden.

Heute, fast 60 Jahre nach diesem Brief und nach dem ersten Besuch einer deutschen Wissenschaftler-Delegation von der Max-Planck-Gesellschaft unter der Leitung von Otto Hahn im Jahre 1959 in Israel, sind die Freie Universität Berlin und die Hebrew University of Jerusalem durch eine strategische Partnerschaft verbunden. Die Kooperation umfasst Forschung, Lehre und Verwaltung. So tauschen sich in einem Projekt Lehramtsstudierende aus beiden Ländern über den Umgang mit dem Thema Holocaust in Schulbüchern aus, besuchen gemeinsam zentrale Gedenkorte, und diskutieren ihre eigenen Familiengeschichten. Was vor mehr als 50 Jahren mit einem Brief aus Berlin begann, hat sich heute zu einer intensiven freundschaftlichen Zusammenarbeit zwischen zwei Universitäten entwickelt. Trotz der schwierigen und stockenden Anfänge. Demnächst können Doktoranden auch einen Doktortitel beider Universitäten erwerben und von zwei Doktorvätern oder -müttern in Jerusalem und Berlin betreut werden. Hanoch Gutfreund ist überzeugt: „Die Geschichte der deutsch-israelischen Wissenschaftskooperationen ist eine Erfolgsgeschichte.“ Als am vergangenen Dienstag die Präsidenten von Hebrew University und Freier Universität, Menahem Ben-Sasson und Peter-André Alt, das Abkommen über gemeinsame Promotionen unterschrieben, kam für Hanoch Gutfreund auch ein unvollendetes Kapitel deutsch-israelischer Geschichte zum Abschluss: „Es war, als ob der Luftpostbrief aus Berlin nun 57 Jahre später beantwortet worden ist.“

Nina Diezemann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false